Wiener Geschichten

WIENER KOCHKUNST

Bitte zu Tisch!

Leopold Museum Blog

„Die eine Orange war das einzige Licht“ – so beschriftete Egon Schiele eine Zeichnung, die er im April 1912 in seiner Gefängniszelle in Neulengbach angefertigt hatte. Auf der gekrümmten Pritsche in dem karg und unwirtlich skizzierten Raum leuchtet darin die saftige Frucht, die Schiele von seiner damaligen Geliebten Wally Neuzil erhalten haben soll. Im Bild besticht die Orange durch ihre satte Farbe. Wie war es wohl, sie an diesem Ort zu essen? Das Gefühl ihrer Schale auf der Haut, der frische Duft, der in die Nase steigt, der fruchtige Geschmack, der sich beim Kauen als Saft im Mund ausbreitet? – Zweifellos: ein sehr sinnliches Erlebnis in einem dunklen Lebensmoment.

Im Biedermeier eiferte das Wiener Bürgertum dem Adel nach. Kochbücher waren der Schlüssel zu diesem Lebensstil, der durch herrschaftliche Kulinarik erlebbar werden sollte. Gulasch, Kalbsschnitzel und viel Rindfleisch landeten auf den Tellern. Ab 1884 drang die Wiener Küche über große Kochkunst-Ausstellungen ins internationale Bewusstsein und wurde unter dieser Bezeichnung in ihre Eigenständigkeit geführt. Auf den Ausstellungen wurden neue Produkte und technische Errungenschaften präsentiert. Speisen wie die Frankfurter Würstel und der Reichenauer Zwieback erhielten Auszeichnungen. Besonders prächtige und edle Gerichte benannte man zu dieser Zeit nach gekrönten Häuptern oder Angehörigen des Hochadels. Davon zeugen heute noch Pálffyknödel, Esterházy-Schnitten und – nicht zu vergessen – der Kaiserschmarrn. Zugleich entwickelte die Arbeiter*innenschaft aus der Not heraus preiswerte und dennoch sättigende Rezepte.

Hedonistische „Phäaken“ schmausten und tranken in Wiener Gasthäusern und Restaurants. Die lokale Küche wurde besonders stark durch Beziehungen und Austausch zwischen den vielfältigen cis- und transleithanischen Kulturkreisen innerhalb der Habsburger Monarchie geprägt. So kamen das ungarische Gulasch, die böhmischen Mehlspeisen und noch vieles mehr auf den Wiener Tisch. Auch das „urwienerische“ Backhendl erlebte damals seinen Höhenflug und wurde namensgebend für die sogenannte „Backhendlzeit“. Das Gabelfrühstück, eine kleine warme Mahlzeit, welche dem Mittagessen vorangeht, wurde ebenfalls zu einer Wiener Tradition. In Kaffeehäusern, gelegentlich mit Mobiliar der Wiener Werkstätte versehen, tauschten sich um 1900 Wiens Intellektuelle und Kulturschaffende bei Melange und Co. aus.

Der Phäake

Ich hab sonst nix, drum hab ich gern

ein gutes Papperl, liebe Herrn:

Zum Gabelfrühstück gönn ich mir

ein Tellerfleisch, ein Krügerl Bier,

schieb an und ab ein Gollasch ein,

(kann freilich auch ein Bruckfleisch sein),

ein saftiges Beinfleisch, nicht zu fett,

sonst hat man zu Mittag sein Gfrett.

[…]

Josef Weinheber, aus dem Buch „Wien wörtlich“, 1935

Die Speisepläne variierten jedoch stark nach sozialer Schicht. Während Adelige und Großbürgerliche fast täglich Fleisch verzehrten, mussten sich Arbeiter*innen häufig mit einer Mehlsuppe als einziger täglicher Mahlzeit begnügen. Doch der technische Fortschritt hatte nicht nur zu Neuerungen in der Zubereitung und Haltbarmachung von Speisen geführt, sondern auch zahlreiche Ersatzprodukte wie Margarine und Rübenzucker hervorgebracht. Außerdem sollten Fertigprodukte wie Suppenwürfel von Maggi die tägliche Ernährung erleichtern. Der wohl berühmteste freiwillige und überzeugte Vegetarier Wiens war übrigens der Komponist Gustav Mahler.

Während des Ersten Weltkrieges trafen landwirtschaftliche Einbußen und Versorgungsengpässe nicht nur die ärmsten Bevölkerungsschichten. Hunger und Elend ergriffen die ganze Stadt. Über Lebensmittelkarten für Milch, Fette und Mehl wurden die knappen Ressourcen mit Fortschreiten des Krieges zunehmend rationiert. Viele Rezeptvorschläge befassten sich nun mit der Substituierung mangelnder und dringend benötigter Lebensmittel und der Verwertung von Resten, beispielsweise in Knödeln und Suppen.

Essen bedeutet also viel mehr als nur Nahrungsaufnahme. Es prägt auf eine fast rituelle Weise Gemeinschaften und ist ein Spiegel gesellschaftlicher Gepflogenheiten. Es ist von dem jeweiligen Status und Milieu, aber auch von technischem Fortschritt, örtlichen Bedingungen und sogar von politischen Entscheidungen geprägt. Es ist ein Vehikel internationaler Vernetzungen, ein fundamentales Kulturgut und zugleich eine Notwendigkeit. Schieles eingangs erwähnte Orange lässt das Leid unter der Mangelernährung in Gefangenschaft erahnen und verspricht im selben Atemzug die sinnlichen Stimuli ihres Geschmacks, ihres Geruchs, ihrer Haptik. Nicht zufällig sind Nahrungsmittel seit jeher künstlerischer Bildgegenstand, sei es in Form von Jagdtieren auf Höhlenwänden, in den Stillleben als Vergänglichkeitsmetapher oder in den aus Lebensmitteln gefertigten Kunstwerken. Auch zu Letzterem schuf Egon Schiele während seiner Gefängniszeit ein Beispiel: ein aus Brot geformter, 3,3 cm hoher Porträtkopf eines Mithäftlings, dessen Bronzenachbildung sich heute in der Sammlung des Leopold Museum befindet.

Beitrag von Regina Reisinger