Wiener Geschichten - Leopold Museum Blog

Neue Materialien

für die Wiener Moderne

WIEN 1900

"Alle modernen Formen müssen den neuen Materialien, den neuen Anforderungen unserer Zeit entsprechen, wenn sie zur modernen Menschheit passen sollen."

Otto Wagner

Verhaltenes Stimmengewirr und metallisches Besteck-Klappern. Keine Vorhänge mildern den gediegenen Lärm der eleganten Patient*innenschar. Einziges Textil im lichtdurchfluteten Raum ist die weiße gestärkte Tischwäsche.

Hell, sauber, akkurat. Beinah aseptisch stellt sich der Speisesalon des Nobelsanatoriums dar. Wer nach Purkersdorf fährt, um sich heilende Behandlungen angedeihen zu lassen, erwartet sich, unter seinesgleichen zu sein und die modernsten kurativen Verfahren genießen zu können. Einen zeitgenössischen Wellnesstempel für die Oberschicht hat der Großindustrielle Viktor Zuckerkandl errichten lassen. Und der Name des beauftragten Gestalters ist Programm: Josef Hoffmann.

Die Residenzstadt des Habsburgerreiches ist für ihren Konservativismus bekannt. Umso mehr gilt es, mit zeitgenössischen Lösungen zu beeindrucken und mit gediegenem Geschmack zu überzeugen. Das kubische Sanatorium Westend in Purkersdorf ist ein glänzendes Beispiel dafür. Der Bau atmet förmlich Moderne. Grund- und Aufriss sind aus dem Quadrat entwickelt. Die glatte weiße Fassade des kubischen Gebäudes ist schmucklos. Lediglich an den Gebäudekanten und um die Tür- und Fensteröffnungen prangen Zierleisten in Schachbrett-Ästhetik. Auf dem Gebäude ruht ein Flachdach. Der Hygienefanatiker Hoffmann gestaltete lichtdurchflutete, von frischer Luft durchwehte Räume mit leicht zu reinigenden Oberflächen. Glatte Möbel und Gebrauchsgegenstände erlauben es, die Innenräume keimfrei zu halten und den Anforderungen eines Sanatoriums gerecht zu werden. Selbst die Blumenständer aus weiß lackiertem gebogenem Lochblech erweisen sich als elegant und funktional zugleich. Eine der bahnbrechenden Ideen des Architekten: Die quadratisch gestanzten Löcher im Blech repräsentieren das Insignum, das Logo der Wiener Werkstätte. Aus dem vergleichsweise billigen Material lassen sich fantasievolle Interieur-Objekte herstellen.

Trotz der großen Tür- und Fensteröffnungen werden die weit überspannten Kubaturen nicht von Pfeilern oder Säulen getragen – die Decke ist von Stahlbetontraversen überspannt! Wegweisende neue Materialeinsätze und Techniken halten Einzug.

Mit seinem „Neuen Nutzstil“ hatte bereits der Architektur-Pionier Otto Wagner Maßstäbe gesetzt. Der Akademie-Professor von Josef Hoffmann etablierte völlig neue Gestaltungsprinzipien: Funktionale Gegebenheiten werden nicht mehr länger unter wuchernden, antikisierenden Dekorationen versteckt, sondern bewusst gezeigt. Mit seiner k. k. Postsparkassen-Zentrale – eines der letzten Gebäude, die an der Wiener Ringstraße errichtet wurden – hielt die Moderne Einzug: Die Stahlkonstruktion lässt Tageslicht direkt in die weite Schalterhalle fallen. Ab- und Zuluftrohre werden in einem bis dahin unüblichen leichten, gut formbaren, nicht korrodierenden matt-silbrig glänzenden Metall sichtbar gemacht: Aluminium! Auch Wagners Postsparkassen-Möbel atmen diesen revolutionären Geist: Funktional, elegant und bis ins letzte Detail bewusst designt, verraten sie, dass er nichts dem Zufall überlassen hat. Bugholzteile werden sichtbar von metallischen Nieten zusammengehalten. Überall dort, wo die schweißnassen Hände der Angestellten zu ruhen kommen, verhindern Aluminiumplättchen auf den Armlehnen der Sessel und Hocker, dass es auf der Oberfläche des Schellacks zu unschönen Nutzspuren kommt.

Wenn abends nach einem regnerischen Tag der Boden der zentralen Halle mit nassen Scheuerlappen gereinigt werden muss, ist das Gift für die mit Schellack versehenen Sesselbeine – doch Aluminiummanschetten sorgen formvollendet für Abhilfe.

Neuerdings folgt Schönheit der Funktion. Eines bedingt förmlich das andere. Die Wahl des Materials und die formale Gestaltung folgen der Überlegung und Fragestellung des Nutzens und der Fertigungstechnik und nicht dem Diktat von Dekoration und Schmuck.

Die aus den böhmischen Glasproduktionsstätten kommenden Objekte atmen diese Liebe zu neuen Materialien, unkonventionellem Gestaltungswillen und atemberaubender Modernität. Unternehmen wie Joh. Lötz Witwe setzen neue Maßstäbe. Neben geschliffenem Kristall- und Email-Überfangglas wird dort ab den 1860er-Jahren vor allem Farbenglas hergestellt. Ein in Vergessenheit geratenes Verfahren ist die Herstellung von Perlglas: Eingeschlossene Bläschen verleihen den Vasen wundersame Leichtigkeit und dekorative Eleganz. Waren es Silberkügelchen, die der Glasschmelze beigefügt wurden, um aufplatzend dekorative, lichtbrechende Hohlräume zu schaffen? Wir wissen es nicht mehr. Zwei Weltkriege haben so manche Tradition zerstört und eine Welt untergehen lassen, die von der Überzeugung getragen war, Schönheit könnte eine bessere hervorbringen. Und doch lebt ein Hauch dieses großen Gedankens in den Objekten fort – geboren von einer Gesellschaftsschicht, die von einem unverbrüchlichen Willen zu Erneuerung getragen war.

"Es gibt zwei Arten von Künstlern: die einen, die eine Sache vernunftmäßig aufbauen und systematisch entwickeln, und die anderen, denen etwas einfällt – ich bin mehr für die Einfallenden."

Josef Hoffmann

Beitrag von Markus Hübl