Wiener Geschichten - Leopold Museum Blog

Süßes Wiener Mädel

Misogynie in Wien um 1900

Mit schiefem, schüchternem Lächeln blickt sie uns an. Den Kopf zur Seite geneigt, in sich leicht zusammengesunken, die Schultern hochgezogen, die langgliedrigen abgearbeiteten großen Hände auf den Knien ruhend, sitzt sie vor uns, in ein volkstümlich buntes Schultertuch gehüllt. Zurückhaltend und gleichsam durchlässig – als wollte sie sich unsichtbar machen. Poldi Lodzinsky, ein junges Mädchen aus einfachen Verhältnissen. Ihr Vater ist Busfahrer in Krumau. Immerhin. Welche Wünsche, Sehnsüchte, Hoffnungen hat sie? Welche Chancen tun sich für das junge Mädchen im Fin de Siécle auf? Wird sie eine Anstellung als Dienstmädchen in einem guten Haus bekommen? Wird sie einen Bräutigam finden und heiraten, Kinder kriegen, den Haushalt führen? Wird sie zusätzlich Lohnarbeit leisten müssen, weil ihr Mann nicht genug Geld nach Hause bringt? Oder wird sie daheim bei den Eltern bleiben und sich um ihre Geschwister kümmern müssen? Schafft sie es, in die Reichshauptstadt Wien zu ziehen und dort eine Anstellung als Weißnäherin, Wäscherin oder Modistin zu finden?

Nehmen wir an, sie mietet sich ein kleines Zimmer in der Vorstadt. Was von ihrem Lohn übrig bleibt, schickt sie nach Hause. Eine jener jungen Frauen also, denen es gelingt, ein mehr oder weniger selbstbestimmtes Leben zu führen. Vielleicht geht sie eine lose Beziehung mit einem jungen Herrn aus der Oberschicht ein. Er macht ihr kleine Geschenke. Lässt sie teilhaben an einer Welt, die sie nur aus Schilderungen und Erzählungen kennt: Er lädt sie ab und an zu einem kleinen Soupé in einem einsamen Stadtrestaurant ein – da wo man nicht gesehen wird, wenn man eine illegitime Beziehung unter seinem Stand pflegt. Ein warmes Essen, ein paar Glaserl Wein. Kleine Vergnügungen im Prater. Ab und zu eine finanzielle Zuwendung. Fein herausgeputzt hat sie sich, die junge Person – Kleidung von einfachem Geschmack. Sie besticht durch eine gewisse naive Freizügigkeit. Die junge Frau weiß, dass die Liaison zu dem jungen Herrn nur von kurzer Dauer sein wird. Sie ahnt, dass er sie nicht heiraten wird. Der Standesunterschied ist eine unüberwindbare Hürde. Doch sie wird sich von ihm verführen lassen und er wird von ihr gleichermaßen entzückt sein – von ihrer Unbefangenheit, von ihrer heiteren Natürlichkeit, der reizenden Gestalt, ihrem Mutterwitz, ihrer Lust am Tanzen und der Leidenschaft, mit der sie sich ihm und den kleinen Vergnügungen der Zweisamkeit hingibt. Er wird nicht müde, ihren wiegenden Gang, ihre helle vibrierende Stimme und ihren natürlichen Zungenschlag auszukosten. Was der Herr der besseren Gesellschaft an ihr so besonders schätzt, ist ihre ehrliche Hingabe, frei von Koketterie und ihre Spontanität, ja geradezu Leichtsinnigkeit, mit der sie liebt. Ein biss’l Berechnung ist dabei. Er leistet sich ein „süßes Mädel“ aus der Vorstadt zur Zerstreuung und Erbauung. Sie ist ein wahrer Glücksfall, gewährt sie doch alle Vorzüge einer Mätresse – ohne deren Vorliebe für Preziosen zu besitzen – und auch jene einer Ehefrau oder Prostituierten, indem sie stets zur Stelle, abrufbereit ist. Und: Wird man ihrer überdrüssig, beendet man die Geschichte kurzerhand und ohne Folgen.

Eine Mischung aus Kleinbürgerlichkeit, Realitätssinn und Anständigkeit führt dazu, dass sich das „süße Mädel“ damit schnell abfindet – den Gepflogenheiten der Zeit folgend wie auch viele andere ihrer Leidensgenossinnen. Im tiefsten Herzen ist sie sich dessen bewusst, dass sie ein austauschbares Liebesobjekt ist. Geliebt wird sie also in der Wiener Innenstadt, geheiratet aber in der Vorstadt – in den Außenbezirken wie Wieden, Josefstadt oder Mariahilf. Dort ist die Eheschließung mit einem jungen Mann ihres Standes das Einzige, was sie noch zu erwarten hat.

 

Niemand benennt den wahren Charakter dieser Beziehung: ein Ausbeutungsverhältnis. Vielmehr ist der Begriff des „süßen Wiener Mädels“ ein literarischer. Arthur Schnitzler popularisiert ihn in den 1890er-Jahren. In seinen Stücken Anatol, Liebelei und Reigen verarbeitet der Spross aus bourgeoisem Hause, der gebildete Mediziner, seine persönlichen Abenteuer, Erfahrungen und Erkenntnisse. Jedoch: Welch’ Skandal, wenn das Unaussprechliche benannt wird! Der Typus hat zwar bereits bei Johann Nepomuk Nestroy existiert, geprägt ist das gängige Bild vom „süßen Mädel“ jedoch von den Ambivalenzen einer Gesellschaft um 1900, die von Fortschrittseuphorie und Zukunftsangst, Endzeitgefühl und Weltschmerz förmlich zerrieben wird. Das „süße Mädel“ repräsentiert einen Gegentypus zur Femme fatale, aber auch zur standesgemäßen, jedoch sexuell unzugänglichen höheren Tochter. Es wird von der Prostituierten unterschieden, steht aber auch im Gegensatz zum „braven“ Mädchen aus gutem Hause. Hermetische Konventionen, rigide Vorstellungen von Moral und Sittlichkeit, Körperfeindlichkeit, eine tabubehaftete Sexualität und misogyn geprägte Machtverhältnisse – sie bilden den ungesunden, scheußlichen Humus, auf dem dieses Phänomen gedeihen kann. Wie lange wird es noch dauern, bis die letzten Ranken dieser degoutanten Pflanze gänzlich gerodet sind?

 

Beitrag von Markus Hübl