Wiener Geschichten – Leopold Museum Blog

LUST UND LASTER

Vergnügen und Verderben

Ausgelassenheit, Musik, Rausch und Ekstase: Schon lange bevor sich Sigmund Freud dem Unbewussten und den Trieben der Menschen widmete, brach halb Wien im Schutz der Nacht aus bürgerlichen Moralkorsetten aus. Tanzveranstaltungen wie die Wäschermädl- und Fiakerbälle wurden im 19. Jahrhundert zu heiteren Schauplätzen von Ausschweifung und sexueller Annäherung. Der Prater und die Vorstadt Wiens erblühten im 19. und 20. Jahrhundert als Hochburgen von Lust und Laster. Volkssängerinnen betörten in Singspielhallen und Heurigen sowie auf Brettlbühnen, denn Unterhaltung war stets eng mit der sogenannten „Halbwelt“ verbunden. Von der Versuchung des Verruchten und Verbotenen umrankt, lockte die Vergnügungskultur mit ihrer ungezähmten Befreiung von gesellschaftlicher Ordnung.

Bis in die Gegenwart eröffnen die Pforten von Nachtlokalen Möglichkeitsräume. Im 19. Jahrhundert waren die Wäschermädlbälle beispielsweise gern frequentierte Zufluchtsorte für Homosexuelle. Volkssängerinnen, Schauspielerinnen und Tänzerinnen stellten die Geschlechterrolle der passiven und im Privaten verborgenen Frau völlig auf den Kopf und erlangten durch ein eigenes Einkommen ein Stück Selbstbestimmung. Für die als „Lebedamen“ bezeichneten Unterhaltungskünstlerinnen, welche meist in die Nähe der Sexarbeit gedrängt wurden und mit geringer gesellschaftlicher Akzeptanz sowie Ausgrenzung zu kämpfen hatten, bot dies aber keineswegs nur Vorteile. Zwar finanziell unabhängig von Ehemännern, mussten sie sich dennoch, um erfolgreich zu sein, ihrer männlichen Kundschaft und deren Wünschen und Fantasien anpassen.

Die Volkssängerin Fiaker-Milli (1848-1889, bürgerl. Emilie Turecek) könnte als Vorbild für die 1919 gefertigte Büste einer berauschten Bacchantin aus dem Gefolge des mythologischen Gottes des Weines gedient haben. Mit ihrer aufrührerischen und emanzipierten Schöpferin Vally Wieselthier teilt die Keramik eine freche „Bubikopf“-Frisur. Auch Fiaker-Milli fiel in ihrem Jockey-Kostüm mit ihrem Erscheinungsbild auf. Sie musste dafür eine Lizenz zum Tragen von Herrenkleidung erwerben. Der Zeitgenosse Josef Koller erinnert sich im Buch „Wiener Volkssängertum in alter und neuer Zeit“ (1931), wie sie durch ihr zügelloses Treiben ganze Festgesellschaften aufheizte: „Einem alten Hocharistokraten wurde die Glatze durch die Millische Zehenspitze attackiert, auch ein freiherrlicher Bauch soll beinahe eingestoßen worden sein …“. Nicht zufällig ehelichte sie den Fiaker Ludwig Demel. Neben der Veranstaltung fulminanter Bälle sind die Fiaker untrennbar als Transporteure von Nachtschwärmer*innen, Sexarbeiter*innen und Liebenden in sogenannten „Porzellanfahrten“ mit der Vergnügungskultur verbunden.

„Immer näher gellten und schmetterten vom Wurstelprater her die Tschinellen […] dazwischen knatterten dumpfe Schläge aus den Buden, zischte Gelächter, grölten trunkene Schreie, und jetzt sah ich schon mit irrsinnigen Lichtern die Karusselle meiner Kindheit zwischen den Bäumen kreisen.“ So reißt Stefan Zweigs Novelle „Phantastische Nacht“ (1922) Lesende in den Strudel mit, den ein schicker Baron im Prater erlebt, der sich durch das Brechen jeglicher Tabus erstmals lebendig fühlt.

Treten Sie näher und staunen Sie! Biegsame Athlet*innen, bärtige Damen, Zauberer, die Frauen durchsägen und brennende Flüssigkeiten spucken, Messerwerfer mit ihren kreischenden Zielscheiben, Drahtseilakte kombiniert mit dem kulinarischen Genuss eines Wiener Würstels mit Kren. Im Prater begab man sich bereits tagsüber in fremde Welten, taumelte durch Spiegelkabinette, schauderte in der Geisterbahn oder versetzte das Blut in Wallung mit dem Tobbogan oder dem Schweinekarussell der Schaustellerfamilie Kobelkoff. Ganze Zirkusdynastien wie Busch, Renz und Schumann hatten dauerhaft hier ihre Zelte aufgeschlagen, um die nach Illusion und Spektakel dürstenden Wiener*innen aller gesellschaftlichen Milieus zu empfangen. Im Zuge seiner sozialen Reportagen der 1920er und 1930er-Jahre bildete Wilhelm Traeger die Praterartist*innen ab, welche er mit erstaunlichen Fähigkeiten und dem Reiz des Dubiosen umgeben zeigt. Auf Tieren balancierend und in Ringen schwingend füllen Zirkusnummern und Clowns die expressionistischen Kunstwerke von Marc Chagall, Ernst Ludwig Kirchner und vielen weiteren. So verbirgt sich z.B. auf der Rückseite von Kirchners 1912 entstandenem Gemälde „Akte im Atelier“ eine in sich verknotete Artistin in einer gut besuchten Zirkusmanege. Eine alles erfassende Euphorie für Zirkus, Revue, Jazz und Varieté wird damals in Gemälden aber auch Theater und Literatur unübersehbar.

Doch wo Licht, da auch Schatten. Im Prater staunte man nicht nur über Errungenschaften in Kultur und Wissenschaft aus fernen Orten wie Japan und China wie in der Wiener Weltausstellung 1873. In rassistischen Völkerschauen wie dem 1896 neben dem Wurstelprater eingerichteten „Aschanti-Dorf“ blickte man in kolonialistischer Manier auf Kulturen herab, verspottete Personen mit körperlichen Abnormitäten und amüsierte sich bei antisemitischem Kasperltheater. Die Nacht frisst ihre taumelnden Kinder. Der Ausnahmezustand am Rand der Gesellschaft war für Schausteller*innen wie Volkssänger*innen ein Alltag, den sie kaum verlassen konnten. Im Rausch folgt auf den Höhenflug nicht selten ein tiefer Fall. Falco singt dazu im Song „Zu viel Hitze“:

„Baby, was hast du aus dir gemacht?
Bist mit jedem cool
Solang er noch bisschen was
für dich hat
Tanzt immer noch Arm in Arm
Mit dem Teufel, denn er hält dich wach“

Falco

Und wie sonst sollten Alfred Kubins düstere Totentänze ins Verderben stattfinden, wenn nicht in Frack und Kleid am schummrig beleuchteten Parkett zwielichtiger Lokale zu später Stunde?

 

Beitrag von Regina Reisinger.