WIENER GESCHICHTEN

GESPRENGTE MIEDER

Verstecken und Befreien

des weiblichen Körpers

Stefan Zweig schreibt in seinen Memoiren, dass sich um 1900 in keinem anderen Bereich des öffentlichen Lebens eine so totale Verwandlung vollzog wie zwischen den Geschlechtern. Diese Beziehung zum weiblichen Geschlecht verlor im Laufe des 19. Jahrhunderts jede Natürlichkeit. Je mehr eine Frau als "Dame" wirken wollte, desto weniger durften ihre natürlichen Formen erkennbar sein. Die Mitte des Körpers wurde wie eine Wespe abgeschnürt, der Unterkörper unter einer riesigen Stoffglocke versteckt, der Hals hoch verschlossen bis ans Kinn, das Haar aufgetürmt, die Hände immer von Handschuhen bedeckt. Die Frau war so hilflos, dass sie sich weder bücken, noch laufen noch selbst anziehen konnte. Das alles diente der Moraltendenz der Zeit, deren Hauptsorge das Verdecken und Verstecken war, so lange, bis sich die ersten Bruchstellen zeigten und der Beginn einer radikalen Veränderung der Gesellschaft abzeichnete. 

GUSTAV KLIMT | Frauenbildnis | um 1893GUSTAV KLIMT | Frauenbildnis | um 1893 © Belvedere, Wien, 2013 Dauerleihgabe aus Privatbesitz | Foto: Belvedere, Wien/Johannes Stoll

Einflussreichste Modeikone der Zeit war sicherlich die Kaiserin selbst, schließlich galt Sisi als schönste Frau Europas. Ihre ohnehin schmale Taille wurde mit großer Kraft noch enger geschnürt, sodass viele Frauen daran zerbrachen, diesem Ideal von 40 Zentimeter Umfang nahe zu kommen.

Die Frauen des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren sich sehr wohl der gesundheitlichen Beeinträchtigungen durch das Korsett bewusst, trauten sich jedoch nicht, dem gesellschaftlichen Druck entgegenzutreten. Eine, die sehr früh offensiv gegen den Strom schwamm, war Rosay Mayreder (1858-1938). "Mein Groll gegen das Mieder als einem Werkzeug der Beschränkung stieg im Laufe der Zeit so weit, daß ich es mit achtzehn Jahren einfach ablegte", schrieb sie. Damit war sie 1876 ihrer Zeit fast eine Generation voraus. Im Jahr 1902 war der Kampf gegen das Korsett noch immer lange nicht gewonnen und sie widmete, in der Zwischenzeit im Vorstand des "Allgemeinen Österreichischen Frauenvereins" und Herausgeberin der Zeitschrift "Dokumente der Frauen", im März 1902 ein ganzes Heft diesem Thema. Vor allem Künstler, Schriftsteller und Ärzte schrieben darin gegen das gesundheitsschädigende Mieder an und brachten der Zeitschrift den größten Erfolg ihres Bestehens. 

"Mein Groll gegen das Mieder als einem Werkzeug der Beschränkung stieg im Laufe der Zeit so weit, daß ich es mit achtzehn Jahren einfach ablegte" 

Rosa Mayreder

Sehr bald erkannte auch Emilie Flöge (1874-1952) im Korsett ein widernatürliches Symbol für die gesellschaftliche Zwangsjacke, in die die Frauen ihrer Zeit gesteckt wurden. In diesen Panzern aus Fischbein und Stahlbändern wurden die Frauen zu stützbedürfteigen, atemberaubenden und atemberaubten weiblichen Fantasiegebilden degradiert. Diesem Zustand hielt sie das sogenannte Reformkleid entgegen. In ihrem 1904 gemeinsam mit ihren Schwestern gegründeten Wiener Modesalon "Schwestern Flöge" verkaufte sie untaillierte Kleider. Der von ihrem engen Freund Gustav Klimt und Kolo Moser gestaltete Salon wurde bald zu einem führenden Modezentrum Wiens. Sie beschäftigte bis zu 80 Schneiderinnen und hatte Kontakte zu den führenden Designerinnen Europas, wie Coco Chanel. Zuallererst müssten Frauen das Recht haben, zu atmen, alles andere würde darauf folgen, meinte Emilie Flöge. Die Künstler der Wiener Secession, auch die männlichen, unterstützen sie in ihrer Mission. Der Architekt Adolf Loos, der Zeit seines Lebens sehr fragwürdige Beziehungen zu jungen Mädchen hatte, schrieb Artikel gegen die herrschende Damenmode und Kolo Moser, Gustav Klimt und andere Künstler der Wiener Werkstätte entwarfen für sie Kleider und Schmuck. Bis zu Klimts Tod im Jahr 1918 blieb sie dessen wichtigste Bezugsperson. 

Um 1900 begann ausgehen von England eine Diskussion über Sport für Frauen. Die ersten Eisläuferinnen, Fechterinnen, Tenisspielerinnen und Bergsteigerinnen forderten zweckmäßigere Kleidung. Ihre neue Bewegungsfreiheit verdankten die Frauen aber vor allem dem Radfahren, das um die Jahrhundertwende vom Luxus- zum Modesport wurde. Rosa Mayreder stellte pointiert fest, dass der Radsport für die Emanzipation der Frau mehr geleistet hat als alle Frauenbewegungen zusammen. 

 

Beitrag von Stefan Kutzenberger