Wiener Geschichten

EGON SCHIELES

SELBSTPORTRÄTS

UND UNSERE GEGENWART

Mit Beginn der Moderne begann der Mensch in Teilpersönlichkeiten auseinanderzubrechen. Robert Musil bestätigt das in seinem Romanmonument Der Mann ohne Eigenschaften, indem er sagt, dass der Mensch in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in neun Charaktere zerfiel, die er alle in sich vereinigte, wodurch sie sich allerdings auflösten. Dieses Auflösen der Identität fasste der Physiker und Philosoph Ernst Mach unter dem Schlagwort „Das Ich ist unrettbar“ zusammen, eine Formel, die später vom großen Kulturvermittler Hermann Bahr populär gemacht wurde. Niemand stellte die Krise des Subjekts allerdings radikaler und gültiger dar als der junge Egon Schiele.

„Das Ich ist unrettbar“

Ernst Mach

  • Diese dramatische Selbstdarstellung Egon Schieles zählt zu einer Reihe von großformatigen männlichen und weiblichen Akt-Gemälden, die Schiele 1910 als Zwanzigjähriger malt. Der ausgewogene komponierte sitzende Männerakt mit gegrätschten Beinen zieht sich schräg recht aufwärts durch das Bild.

In den wenigen produktiven Jahren, die ihm sein kurzes Leben gönnte, stellte sich Egon Schiele über 170-mal selbst dar und war sich damit selbst sein häufigstes Modell. Es ist nicht verwunderlich, wenn er deshalb oft als ego-fixierter oder narzisstischer Künstler bezeichnet wurde. Wäre es allerdings tatsächlich so, dass Schieles Werk nur um ihn selbst kreiste, wäre er für uns heutzutage wohl kaum mehr von Interesse. Da Schieles Kunst allerdings mehr Aufmerksamkeit bekommt als je zuvor, höhere Preise erzielt und vor allem die Jugend noch immer direkt erreicht und anspricht, zeigt sich, dass seinen Selbstdarstellungen etwas Allgemeingültiges eigen sein dürfte. Schiele ging es in den Selbstporträts nämlich nicht um sein Ich, sondern um das Ich allgemein, das Ich in einer Zeit, in der das Individuum begann, in seine Einzelteile zu zerfallen. Wie kann man in einer modernen Zeit, in der es keine gesicherten Wahrheiten mehr gibt, in der einem die Worte und Gewissheiten „wie modrige Pilze“ im Mund zerfielen, wie es Hugo von Hofmannsthal 1902 ausdrückte, wie kann man in so einer Zeit ein Ich bleiben? Was bedeutet es, in einer Zeit der sich auflösenden Wahrheiten, der sich widersprechenden Weltanschauungen, ein Individuum zu sein? Das sind alles Fragen, die heutzutage noch dringlicher einer Antwort harren, als zu Schieles Zeiten vor über hundert Jahren. Deshalb ist Schiele einer der gültigsten Deuter unserer eigenen Position als Ich in einer immer ungreifbarer werdenden Gegenwart.

Unermüdlich arbeitet sich Schiele an diesem Ich ab und inszeniert sich in immer wechselnden Versuchsanordnungen vor dem Spiegel. Manchmal nimmt er die Suche nach den Rollen, die man in der multipel gewordenen Gesellschaft zu spielen hat, wörtlich und stellt sich wie einen Schauspieler für ein religiöses Schauspiel dar. Er zeigt sich als Heiliger, Prophet, Prediger, Rufer, Anarchist oder Eremit. Schiele zeigt, dass diese vielfältigen Rollen nur Entwürfe oder Möglichkeiten des Lebens darstellen und nichts über ihn oder seinen tatsächlichen Lebenslauf aussagen. Wenn er in den Spiegel blickt, sieht er also nicht sich und seinen Körper, sondern eine Pose. Es ist allerdings nicht nur dieses sich je nach Situation ändernde Rollenspiel, das auf das „unrettbare Ich“ der Moderne hinweist, sondern auch die Fragmentierung des Körpers. In vielen der Selbstporträts ist Schieles Gesicht an den Rand gedrängt, da vor allem die Gliedmaßen die Bildnisse bestimmen. Das Ich verliert dabei die Kontrolle, nicht nur über sich selbst, sondern auch über den eigenen Körper, dessen einzelne Teile autonom zu handeln scheinen. 

Schiele kann uns keine Antwort geben auf die Frage, wie man in einer fragmentierten Welt ein authentisches Leben führen kann, aber allein seine Versuche, durch sein Werk Möglichkeiten auszuloten, machen ihn zu einen der ganz großen Künstler der Moderne.

Beitrag von Stefan Kutzenberger