Wiener Geschichten

GUSTAV KLIMTS

EROTISCHE KUNST

UND DIE SEXUALMORAL IN WIEN UM 1900

Der Umgang mit Sexualität war in Wien um 1900 dermaßen verklemmt, dass Freud fürchtete, die kulturelle Sexualmoral könne zu irreparablen Schäden im Individuum führen, was wiederum die Kultur insgesamt gefährden würde. Doch die Verdrängungskräfte der Scham und Moralität hielten sich beharrlich, wenngleich die Sexualität freilich immer wieder Wege an die Oberfläche fand. 

So herrschte auch in der Kunst des Historismus kein Mangel an Nacktheit, wie man beispielsweise in Gustav Klimts Altar des Dioysos (1886) eindrücklich sehen kann. Es handelt sich hier um einen Ölgemälde-Entwurf für das zwölf Meter lange Wandgemälde in einer Bogenfläche des Wiener Burgtheaters. Die rauschhaften Musenspiele zu Ehren Dionysus’ waren einer der Ursprünge des Theaters. Deshalb steht auch eine Dionysus-Büste im Zentrum des Gemäldes, an dessen beiden Seiten sich nackte Frauen lasziv räkeln. Obwohl die Darstellung sexuell überaus geladen ist, führte sie zu keinem Skandal, da die Szene mythologisch erklärt werden konnte. Nacktheit war dann gut und vertretbar, wenn sie im antiken Griechenland stattfand.

Gustav Klimts erotische Grafiken, die keine idealisierten griechische Göttinnen, sondern reale Modelle zeigten, waren aus diesem Grund lange Zeit privat, nur Eingeweihte und Besucher bekamen sie in seinem Atelier zu sehen. Etwa um 1905 verloren die Zeichnungen Klimts jedoch den Charakter rein vorbereitender Studien und wurden zu eigenständigen Kunstwerken. Damit bekam nun auch die Öffentlichkeit eine Chance, diese intimen Blätter präsentiert zu bekommen. Das erste Mal geschah dies 1907 durch die Publikation der Hetärengespräche, die trotz der erotischen Darstellungen weder von der Zensur noch von der Presse zu einem Skandal stilisiert wurden. Grund dafür dürfte der nichtöffentliche Charakter dieses „Privatdrucks“ gewesen sein. 

Weniger einsichtig war die Reaktion der deutschsprachigen Presse im Dezember 1910 nach der Ausstellung Gustav Klimt. Bilder und Zeichnungen der letzten Jahre in der Galerie Miethke. Dass hier erotische Zeichnungen öffentlich ausgestellt wurden, provozierte die grundsätzliche Frage, ob es erlaubt sein sollte, „private Ergötzungen, die niemandem verwehrt sind“, wie ein Kritiker sich ausdrückte, öffentlich zu präsentieren. Diese Frage kam aber zu spät, denn Gustav Klimt hatte offensichtlich beschlossen, dass ein kleiner Teil seiner überwältigend großen Produktion an Zeichnungen (etwa 4.000 davon kennt man heute) durchaus für die Öffentlichkeit bestimmt war.

Da mochten die konservativen Wiener Medien noch so laut „Entartung“ und „Pornografie“ rufen, es lag nun am Publikum, mit der neuen Situation umzugehen, denn was man einmal gesehen hatte, den Einblick in das „Geheimnis“ des Künstlers, in sein privates Atelier, konnte man nicht einfach vergessen oder ungeschehen machen. Wie man sieht, änderte sich die Gesellschaft tatsächlich und im Laufe des 20. Jahrhunderts begann man Nacktheit und erotische Posen in der Kunst auch dann zu akzeptieren, wenn es sich bei den Abgebildeten nicht um Göttinnen, sondern um real existierende Frauen handelte.

Beitrag von Stefan Kutzenberger