Wiener Geschichten

DER BLICK

AUS DEM FENSTER

Von Laufgräben und eingerissenen Mauern

Im vierten Obergeschoß des Leopold Museums gibt es inmitten der Ausstellung „Wien 1900“ ein Fenster, das einen beeindruckenden Blick auf ebendieses Wien freigibt. Über das Dach des langgezogenen Trakts der ehemaligen Hofstallungen hinweg, die heutzutage das Museumsquartier beherbergen, schweift der Blick zwischen Kunsthistorischem und Naturhistorischem Museum zum Burgtor und weiter über den Heldenplatz bis zur Hofburg. Im Laufe der Geschichte wandelte sich die mittelalterliche Anlage, die im 13. Jahrhundert wortwörtlich eine Burg war, zu einem ausgedehnten Gebäudekomplex, der aus 18 Trakten mit rund 2.600 Räumen besteht, in denen heute rund 5.000 Menschen arbeiten und wohnen. Wo einst Landesfürsten und Kaiser regierten sind das heute Bundeskanzler und -präsident.

Das mächtigste Gebäude beim Blick aus unserem Fenster ist aber das Kunsthistorische Museum, dessen Front in einer Achse zum Leopold Museum liegt. Diese imaginäre Linie deutet eine Kontinuität an: die Sammlung des KHM beginnt bei den Alten Ägyptern und geht bis ins 19. Jahrhundert, das Leopold Museum beginnt im 19. Jahrhundert und reicht bis zum Zweiten Weltkrieg. Wenn man bedenkt, dass das Mumok auf der anderen Seite des großen MQ-Hofes den Schwerpunkt auf die Kunst nach 1945 legt, hat man in diesem Dreieck die gesamte Kulturgeschichte der Menschheit konzentriert.

Kunsthistorisches und Naturhistorisches Museum sind zwar wichtige Ringstraßenbauten, blicken allerdings nicht auf ihn. Es war der deutsche Architekt Gottfried Semper, der in der Gesamtkonzeption für das großteils unrealisierte „Kaiserforum“ den Heldenplatz vor der Hofburg und den Maria-Theresien-Platz zwischen Kunst- und Naturhistorischem Museum zusammenfasste. Es ist dies deshalb der einzige Platz am Ring, der sich auf beide Straßenseiten ausdehnt.

Als Übergang zwischen den Museen und der Burg wollte Semper eine Triumphpforte errichten. Wie der Petersplatz in Rom, sollte das Kaiserforum aus einem ovalen und einem rechtwinkeligen Platz zusammengesetzt werden. Analog zu den beiden Museen, die sich spiegeln, sollten sich auch die neu zu bauenden Flügel der Burg gegenüberstehen: Die Brennpunkte der daraus entstehenden Ellipse würden die beiden Reiterstandbilder des Heldenplatzes besetzen.

Doch der Bau dieses gewaltigen Kaiserforums machte von Anfang an Probleme: auch 200 Jahre nach der zweiten Türkenbelagerung Wiens, hatte man noch immer mit den Auswirkungen der damaligen Laufgräben und Minen zu kämpfen: Der Boden war so aufgelockert, dass die Fundamente der Neuen Burg 25 Meter tief ausgehoben werden mussten. Wo heute der Heldenplatz ist, standen 1683 die belagerten Österreicher – auf dem Museumsplatz, dort wo heute das Maria-Theresien-Denkmal steht, hatten sich die osmanischen Besatzer verschanzt. Dazwischen, auf der heutigen Ringstraße, befand sich die Burgbastion mit dem alten Burgtor. Diese Festungsanlage lieferte gegen die Türken noch einen wirkungsvollen Schutz, der schließlich zum Sieg Österreichs führte. Napoleons Soldaten sprengten 1809 dann aber Teile der Stadtbefestigungsanlage einfach in die Luft, wodurch offensichtlich wurde, dass die mittelalterliche Stadtmauer endgültig ihren militärischen Wert verloren hatte.

1824 wurde die von Napoleon zugefügte Lücke wieder geschlossen und das Äußere Burgtor als Denkmal für den heldenhaften Kampf der kaiserlich-österreichischen Armee in der Völkerschlacht bei Leipzig (1813) eröffnet. Dieses Burgtor ist heute vom Fenster des Leopold Museums gut sichtbar – und der letzte Rest der damaligen Stadtmauer, die ja ab 1858 geschliffen wurde und der Ringstraße weichen musste. Der Bau der Ringstraße dauerte ein halbes Jahrhundert und war das größte Bauprojekt Europas. Hunderttausende Bewohner der Kronländer zogen voller Hoffnung auf Arbeit und ein besseres Leben in die Hauptstadt Wien. Dieser sprunghafte Anstieg der Bevölkerung führte zu sozialen Spannungen. Neben dem Prachtboulevard entstanden unüberschaubare Armenviertel, die fremdsprachigen Bauarbeiter stießen auf Ablehnung und schafften es nur sehr schwer, sich zu integrieren. Durch den Bau der Ringstraße und der wachsenden und internationaler werdenden Bevölkerung wurde Wien aber zu einer der wichtigsten Kulturmetropolen der Welt.

Passend zu Weihnachten halten wir fest: lasst uns Mauern schleifen und Schutzsuchende mit offenen Armen empfangen. Am Ende sind es wir selbst, die am meisten davon profitieren.

Beitrag von Stefan Kutzenberger

Das Leopold Museum wünscht Frohe Weihnachten!

Leopold Museum weihnachtlichLeopold Museum weihnachtlich © Leopold Museum, Wien 2020