Wiener Geschichten

"Eine Zeit so schnell

wie ein Reitkamel"

Wie das beginnende 20. Jahrhundert

bis heute unseren Alltag bestimmt

Die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg steht uns in vielem näher als das restliche 20. Jahrhundert: Gustav Klimt konnte, ohne einen Reisepass herzeigen zu müssen, von Wien nach Madrid reisen, die Habsburgerhauptstadt selbst wurde immer internationaler, große Bevölkerungsgruppen mit fremden Sprachen und Religionen stellten die Stadt vor große Herausforderungen, Nationalismus wurde zu einem Politikum, gleichzeitig aber erlebte die Stadt einen einzigartigen kulturellen Höhenflug. Die gesellschaftlichen Veränderungen und technischen Fortschritte dieser Jahre fegten über die immer verunsicherter werdenden Menschen hinweg. Egon Schiele schuf wie besessen Selbstporträts, nicht, weil er sich selbst so wichtig nahm, sondern weil er in immer neuen Posen und Rollen versuchte die Frage zu klären, was es bedeuten konnte in Zeiten des beständigen Wandels ein „Ich“ zu sein. Diese Frage stellt sich uns heute dringender denn je, und wieder versuchen wir sie durch Selbstporträts, manisch gepostet in den sozialen Medien, zu beantworten.

„Leute, die damals noch nicht gelebt haben, werden es nicht glauben wollen, aber schon damals bewegte sich die Zeit so schnell wie ein Reitkamel; und nicht erst heute. Man wußte bloß nicht, wohin.“ 

Robert Musil, 1930

Robert Musil schrieb 1930 über das Jahr 1913: „Leute, die damals noch nicht gelebt haben, werden es nicht glauben wollen, aber schon damals bewegte sich die Zeit so schnell wie ein Reitkamel; und nicht erst heute. Man wußte bloß nicht, wohin.“ Eine Beobachtung, die genauso gut für unsere Gegenwart stehen könnte, alles bewegt sich, verändert ich, technische Fortschritte beeinflussen unseren persönlichsten Alltag und zwingen uns, unsere Identitäten neu zu überdenken. Diese rasanten Entwicklungen bringen nicht nur neue, bisher unvorstellbare Möglichkeiten mit sich, sondern auch Angst. Man fürchtet sich davor, die Kontrolle über die neue Technologie zu verlieren, überwacht zu werden, den Fortschritt zu versäumen, mit der Geschwindigkeit der Zeit nicht mehr mithalten zu können. Heute führt diese Überforderung oft zum „Burn Out“, was damals „Neurasthenie“ genannt wurde und eng mit der „Hysterie“ verwandt ist, die Sigmund Freud in einem revolutionären Akt mit dem Irrational-Sexuellen in Verbindung brachte und damit eine Landkarte des Unbewussten entwickelte, die bis heute in verschieden adaptieren Formen Therapien Anwendung findet und unsere Vorstellung des Lebens bestimmt. 

Während im beginnenden 21. Jahrhundert das Internet unsere Vorstellung von Kommunikation und Informationsbeschaffung gründlich auf den Kopf gestellt hat, war es um 1900 das Telefon, das Entfernungen schrumpfen ließ. Gleichzeitig wurde der Beginn des Medienzeitalters eingeläutet, in dem immer größere Schlagzeilen, immer wildere Geschichten, immer reißerische Bilder die Auflagen in die Höhe trieben. (Bezeichnender Weise war gleich eine der ersten berühmten Überschriften fake news: Titanic sunk: no lives lost).

Technische Revolutionen sind immer mit Schwierigkeiten verbunden und Gustav Klimt, der sich bereits 1912 einen Telefonanschluss installieren ließ, schrieb in einem Brief: „Mit dem blöden Telefon geht’s einfach nicht“, während der notorisch telefonfeindliche Kaiser Franz Joseph das nach Kriegsausbruch unvermeidlich gewordene Gerät angeblich auf die Toilette verbannte.

Dank Klimts Ungeduld mit dem Telefongerät, haben wir heute 400 Postkarten und Briefe, die er seinem „Lebensmensch“ Emilie Flöge geschrieben hat, die in dieser Zeit gerade das untaillierte Reformkleid entwarf und propagierte. Das neue Selbstbewusstsein der Frauen wurde von der Männergesellschaft als Bedrohung empfunden, dämonisiert und lächerlich gemacht. Aufhalten ließ sich diese Entwicklung freilich nicht mehr und die Gleichberechtigung der Frau ist zwar noch immer nicht abgeschlossen, in den letzten hundert Jahren allerdings schon einen sehr weiten Weg gekommen. 

  • Emilie Flöge war eine der stilbildenden Modeschöpferinnen im Wien der Jahrhundertwende. Ihr Salon „Schwestern Flöge“ war modisches Zentrum des Bürgertums und setzte vor allem mit
    dem sogenannten Reformkleid Impulse abseits der Norm. Sie
    ist auch als Muse und Weggefährtin von Gustav Klimt bekannt.

Auch viele andere Selbstverständlichkeiten unseres modernen Lebens sind in der Zeit um 1900 entstanden: Unsere Züge fahren noch immer auf den Fundamenten des damals entwickelten Eisenbahnnetzes, wir folgen gebannt den damals ins Leben gerufenen Sportwettkämpfen wie den Olympischen Spielen und lassen uns noch immer von Kinopalästen und Großkaufhäusern verführen, die schon damals die Massen von einer besseren Welt träumen ließen.

Wien ist in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg zu einer blühenden und brodelnden Metropole geworden, der Hauptstadt des Vielvölkerreichs der Habsburgermonarchie, in der die Frage nach Identitäten, Nationen und Sprachen Alltag war, was sich in einen immer virulenter werdenden Nationalismus und Antisemitismus ausdrückte. Auch heute präsentieren sich die großen Städte Mitteleuropas als multikulturelle Schmelztiegel, mit allen Möglichkeiten und Schwierigkeiten, die das Neben- und Miteinander von verschiedenen Kulturen und Weltanschauungen mit sich bringt. Dachte man vor hundert Jahren noch, dass ein Krieg eine Lösung aller Probleme sein könnte, weiß man heute glücklicherweise, dass dies keine Option darstellt.

Die Epoche Wien um 1900 ist viel mehr als museal ausgestellte Kunst, sie kann uns als Handlungsanleitung für unser eigenes Leben dienen und auf vielen Ebenen helfen, unsere eigene Zeit besser zu verstehen.

Beitrag von Stefan Kutzenberger