Wiener Geschichten

WENN DIE WÄNDE

SPRECHEN KÖNNTEN...

Leopold Museum Blog

Spätabends von einer inneren Unruhe gepackt und aus der Wohnung gedrängt verließ ich bei meinem Streifzug das Areal des Alten AKH Richtung Westen und querte die Spitalgasse. Durch Zufall in der Mariannengasse gestrandet, trieb ich vorbei an Ordinationen in Gründerzeithäusern und fragte mich, ob ich jemals zuvor hier gewesen war. Abrupt endete jedoch jegliche Rastlosigkeit an der Kreuzung zur Pelikangasse. In der Dunkelheit entfaltete sich der mystische Sog von Leere und Schwermut, welcher von einer gewaltigen, ehemals prunkvollen Hausfront ausging. Hypnotisiert und demutsvoll blickte ich an den vier Stockwerken mit je zwanzig Fensterreihen hoch. Der versuchte Blick durch die verschmutzten, teils gesprungenen Fensterscheiben führte ins finstere Nichts. Links und rechts von der Tür fanden sich jedoch zwei Schilder: „Gustav Mahler starb am 18. Mai 1911 in diesem Hause“ und „In diesem Haus, dem ehemaligen Sanatorium Löw, verschied Josef Kainz am 20. September 1910“.

  • AUSFÜHRUNG: CASPAR HZADRIL

Meine Faszination schlug sogleich in Neugierde um: Welche Geschichte trägt dieses Haus wohl in sich? Zurück in meiner Wohnung begannen sogleich meine ersten Recherchen. Der weitgehend in Vergessenheit geratene Mediziner, Kunstsammler und -förderer Anton Loew (1847–1907) betrieb ab 1882 an dieser Stelle mit seiner Frau Sophie (geb. Unger) das mitunter renommierteste, modernste und größte private Sanatorium ganz Wiens. Seit Jahrzehnten steht es leer. Österreichs erster Röntgenapparat, eine Frauenheilanstalt geleitet von Bianca Bienenfeld – der zweiten Frau im Land, die den medizinischen Doktortitel erhielt – und nie dagewesene Hygienemaßstäbe durch abwaschbare Möbel fanden sich neben zahllosen weiteren Errungenschaften innerhalb dieser späthistoristischen Mauern. Die Liste der Patient*innen liest sich wie ein Verzeichnis der beeindruckendsten und berühmtesten Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur bis hin zum Kaiserhaus. In Anton Loews Nachruf im Abendblatt der Neuen Freien Presse vom 14. September 1907 überschlug sich das Lob dafür, wie er Geschick und Expertise abseits von Glanz und Prestige nutzte, um humanitäre Hilfe beim Roten Kreuz, dem Samariterbund und anderorts zu leisten. Sein Wissen zu ehrenamtlicher Krankenpflege hielt er in zahlreichen Publikationen fest.

Neben den medizinischen Pionierleistungen fanden auch die hochkarätige Kunstsammlung der für die Wiener Moderne brennenden Familie Loew sowie ihr großzügiges Mäzenat*innentum Beachtung. Sie waren es, die dem Schweizer Künstler Ferdinand Hodler über ihr weitreichendes Netzwerk ermöglichten, sich im Kreis der Wiener Secessionisten zu etablieren und ihn durch Ankäufe seiner Werke förderten. Als die Klimt-Gruppe aus dem konservativen Künstlerhaus austrat, legte auch Anton Loew 1897 seine außerordentliche Mitgliedschaft in der Genossenschaft der Bildenden Künstler Wiens zurück. Seine finanzielle Zuwendung kam fortan der neu gegründeten Secession zugute. Als gern gesehener und treuer Ausstellungsgast sowie anonymer Leihgeber kehrte er häufig mit neuen Erwerbungen von den Präsentationen in der Secession zurück. So gelangte beispielsweise bei der X. Ausstellung der Wiener Secession 1901 Gustav Klimts Gemälde Judith I in Familienbesitz.

Anlässlich der Verlobung von Gertrud Loew (1883–1964), der Tochter von Anton Loew, malte der Sanatoriumsgast Gustav Klimt 1902 ein Gemälde von ihr in einem luftig-pastelligen Reformkleid. Koloman Moser wurde mit dem  Interieur der neuen Wohnung für sie und ihren ersten Mann Georg Eisler von Terramare beauftragt. In einigen Sammlungen, wie der des Leopold Museums, sind Teile daraus erhalten. Außerdem arrangierte Moser in der Wohnung sechs Porträtzeichnungen der Mutter Sophie, ebenfalls von Klimt gefertigt. Dies ist aber bei weitem noch nicht alles! Werke von August Rodin, Ferdinand Georg Waldmüller, Jean-François Raffaëlli und zahlreichen weiteren namhaften Kunstschaffenden inmitten von feinstem Mobiliar und Kunsthandwerk aus der Wiener Werkstätte wurden bei Zeitgenoss*innen wie Berta Zuckerkandl und Ludwig Hevesi schwärmerisch beschrieben.

Gertrud Loew, ab 1912 in zweiter Ehe verheiratete Felsövanyi, trat nach dem Ableben ihres Vaters 1907 in dessen Fußstapfen als Sanatoriumsleiterin. In den beschwerlichen Jahren der Nachkriegszeit bis zu ihrer Enteignung im Zuge der sogenannten ‚Arisierung‘ 1938 führte sie das Privatspital. Trotz Assimilierung und Taufe mussten sie und ihre Kinder Anton, Franz und Marie vor der nationalsozialistischen Verfolgung von Jüd*innen fliehen. Beinahe ihr gesamtes Vermögen zurücklassend gelangte sie über Belgien und Kolumbien innerhalb von ca. 2 Jahren ins US-amerikanische Exil, wo sie bis zuletzt lebte. Einen Teil der Kunstsammlung hatte sie einer Bekannten anvertraut, welche auch die gefälschten Reisedokumente für die Familie ausgestellt hatte. Diese missbrauchte allerdings das Vertrauen und anstatt die wertvollen Objekte wie vereinbart nachzusenden, vertrieb sie sie am Kunstmarkt. Erst im Laufe der letzten zehn Jahre erhielt die Provenienz der Werke durch Beforschung verstärkte Aufmerksamkeit.

Nach der sogenannten „Arisierung“ diente das Sanatorium Loew als Bürostandort für das nationalsozialistische Deutsche Reich. Einige der insgesamt elf Gebäude der Krankenheilanstalt wurden liquidiert, manche davon von Fliegerbomben getroffen. Seit Jahrzehnten steht das Hauptgebäude mittlerweile leer. Seit kurzem existieren Pläne, ihm seine ursprüngliche Bestimmung als Ort der Krankenpflege durch Renovierungen zurückzuführen.

Fühlt man sich heute beim Spaziergang durch die Mariannengasse von der Aura dieses Hauses in den Bann gezogen, so liegt dies womöglich nicht nur an der mysteriösen Beseeltheit des Verfalls. Das Sanatorium Loew erzählt vom Glanz der Jahrhundertwende, von Synergien zwischen medizinischem Fortschritt und frischem Wind in der Kunst, von seinen Besitzer*innen und von jenen, die dort kuriert wurden, sowie jenen, die dort starben. Es zeugt jedoch auch vom geschehenen Unrecht unter nationalsozialistischer Herrschaft und dem darauffolgenden Umgang damit. Dieses Gebäude ist einer der zahlreichen geschichtsträchtigen Orte, an denen das Wiener Fin de Siècle bis in die Gegenwart in Auszügen erfahrbar bleibt.

Beitrag von Regina Reisinger