Wiener Geschichten - Leopold Museum Blog

Zwischen Opulenz und Nutzstil

Wien – Wiege des Designs

Bordeauxrot, Moosgrün, Kaffeebraun – der Salon des Wiener Großbürgertums präsentiert sich in gedeckten Farben. Brokat, Samt und Seide, in erstickender Dichte drapiert und lustvoll arrangiert, sorgen für beeindruckende Gesamtwirkung. Bizarr bauscht sich der Dekor, wohin das Auge blickt. Edle Hölzer in dunkel poliertem Glanz, wuchtig gedrechselte und mit Schnitzwerk verbrämte Möbel sind en vogue. Man blickt in das klassische Altertum zurück, die Tempel der alten Griechen sind unerschöpfliche Figurenarsenale. Ganze Heere von barbusigen Karyatiden und eine Armada muskulöser Atlanten tragen auf ihren Häuptern und Schultern das antikisierende Gebälk der repräsentativen Stadtpaläste, in denen die Reichen und Schönen wohnen.

An Opulenz kaum zu überbieten ist vor allem jener Stil, den der Malerfürst Hans Makart im wahrsten Sinne des Wortes „salonfähig“ gemacht hat. Der Adel und die Bourgeoisie treffen sich ab 1873 in seinem Atelier zu Künstlerfesten und werden mit allerhand Preziosen und Kuriositäten konfrontiert – mit Perserteppichen, drapierten Tiger- und Eisbärfellen, marokkanischen Kleinmöbeln, mittelalterlichen Rüstungen, Trockenblumensträußen, präparierten Pfauen, Palmwedeln und nordafrikanischen Flachweben. Makarts opulenter Stil wird zum Maßstab guten Geschmacks. Wer etwas auf sich hält, versucht derartige Allüren in seinen eigenen vier Wänden nachzustellen. Die Wiener Gesellschaft des auslaufenden 19. Jahrhunderts sorgt mit der sinnlichen Atmosphäre der pompös ausstaffierten „uteralen“ Höhlen für maximale Repräsentanz und atemberaubenden Prunk. Die von Makart zelebrierte Lust am Dekor repräsentiert das Lebensgefühl einer Gesellschaft, die rückwärtsgewandt ist und sich nichtsdestoweniger an den Segnungen der industriellen Revolution labt. Eine neue bürgerliche Schicht erhebt den Anspruch auf politischen Einfluss. Mehr und mehr müssen die alten Eliten vom Kuchen der Macht abgeben. Die Fassade eines immerwährenden Kaisertums bröselt und bröckelt zwar, doch in den Provinzen des Vielvölkerstaates, in denen es vor Separationsbestrebungen brodelt, werden Eisenbahnschienen verlegt. Die Kopfbahnhöfe der Residenzhauptstadt sind eklektizistisch-repräsentative Tempel.

Der Bauboom an der Wiener Ringstraße bringt eine wahre Laborsituation, Stile werden durchdekliniert: Neogotik, Neorenaissance, Neobarock, Neorokoko und Neoklassizismus. Noch werden Wandel und Transformation der industriellen Revolution von dekorativer Überwucherung überdeckt. Und doch entwächst diesem wohligen Sumpf konservativen Lebensgefühls ein neuer Geist, der in der aufklärerischen Kraft bürgerlicher Bildung gedeiht. Der aus dem Wiener Bürgertum stammende Architekt Otto Wagner wird als Pionier eine bahnbrechende Formsprache entwickeln: klar, funktional und elegant. Er bedient sich neuer Materialien und der damit einhergehenden technischen Möglichkeiten. Der Einsatz von Stahlbeton erlaubt es, große Kubaturen zu überspannen und Gebäude mit weiten Öffnungen zu konstruieren, die Licht und frische Luft in die Räume lassen. Aluminium als leichtes, gut formbares und nicht korrodierendes Material mit seinem matten Glanz ersetzt schwere Metalle. Mit der K.K. Postsparkassen-Centrale – in zweiter Reihe an der Wiener Ringstraße errichtet – manifestiert sich ein neuer Geist: Die scheinbar mit Nieten zusammengehaltene Fassadenelemente heben das Konstruktive hervor. In Wirklichkeit handelt es sich um rhythmisierende Schmuckelemente. Der „Nutzstil“ Otto Wagners ist geboren. Nicht die überflüssige Dekoration gilt nunmehr als schön, vielmehr wird die Funktion eines Objektes sichtbar gemacht. In diesem Sinne agiert eine Generation von jungen Gestaltern: Der aus dem mährischen Pirnitz stammende Architekt und Wagner-Schüler Josef Hoffmann, der gebürtige Wiener Koloman Moser, ausgebildeter Maler und ingeniöser Vagant zwischen verschiedensten Sparten der modernen Formgebung, und der Großindustrielle und obsessive Anhänger der neuen Philosophie Fritz Waerndorfer gründen 1903 die Wiener Werkstätte. Es gilt, durch Schönheit eine bessere Welt zu kreieren. Wer es sich leisten kann, lässt sich sein privates Gesamtkunstwerk erschaffen und trifft sich mit seinesgleichen im eleganten Ambiente des von Josef Hoffmann durchgestalteten Wellnesstempels außerhalb Wiens – dem Sanatorium Westend in Purkersdorf.

Neue, eigenständige Maßstäbe wird dann der aus Brünn stammende Architekt Adolf Loos setzen: Seine schmucklos gerasterte Hausfassade am Michaelerplatz wird zum Zankapfel und zum hasserfüllt diskutierten Inbegriff einer angeblich fehlgeleiteten und zugespitzten Entwicklung. Und doch weht ein neuer Geist durch die Salons der Oberschicht: klare geometrische Formen, helle Farben, schnörkellos-glatte Eleganz, die dazu einlädt, sich einem modernen Lebensgefühl hinzugeben und sich vom Plüschig-Hintergründig-Doppelbödigen zu befreien. Wien wird Wiege einer neuen Idee, eines neuen Strebens: Das Design ist geboren.

 

Beitrag von Markus Hübl