Wiener Geschichten

EIN MESSIAS

DER DISSONANZ

Leopold Museum Blog

Selbstbewusst, verletzlich, herausfordernd: Mit unverwandtem Blick, Licht überstrahlt, in halbnackter Frontalität, lediglich mit einem weißen Lendentuch umhüllt, die Arme herabhängend zeigt sich der junge Maler Richard Gerstl vor dem Spiegel stehend in seinem Selbstporträt von 1902/1904. Sein schlanker Leib scheint von einer sanften Gloriole umhüllt. Wie ein Wiederauferstandener hebt sich der mit weichen, breiten Pinselzügen ausformulierte Körper vom gestisch sich ausbreitenden Dunkel des blauen Hintergrundes ab. Die Modernität von Gerstls malerischer Manifestation ist atemberaubend. Provokant mutet dabei an, dass er in der maltechnischen Umsetzung klassische Regeln der Öl-auf-Leinwand-Malerei – wie diese an der Akademie gelehrt wird – zu missachten scheint. Dünne Schichten von direkt auf die Grundierung gesetzten Untermalungen in Form von Lasuren und dick aufgetragene, bindemittelreiche Farbaufträge, die er übereinander lagert, noch bevor die darunter liegenden Schichten getrocknet sind, rufen Frühschwundrisse in einzelnen Pinselzügen hervor. Der unruhige Duktus wird verstärkt sichtbar. Gerstl nimmt die Artefakte in Kauf. Als würden innere Spannungen des jungen Mannes in seinen Malprozess einfließen und die Oberfläche seiner Gemälde formen. Nicht Harmonie, Ausgewogenheit und landläufige Schönlinigkeit scheinen sein Ziel , sondern Wahrhaftigkeit, Ausdrucksstärke und schonungslose Aufrichtigkeit prägen sein Tun. Dieses zuweilen ans Rücksichtslose heranreichende Streben nach Ehrlichkeit wird auch in den persönlichen Kontakten evident. Gerstl war dafür bekannt, seinen Mitmenschen gegenüber rüde, ja, verletzend geradlinig zu sein, wenn er sich veranlasst sah, seine Meinung zu äußern. Sein Werturteil war gefürchtet, wenn auch meist zutreffend. Der aus wohlhabender, bourgeoiser Familie stammende Maler gilt als hochgebildet, hochtalentiert, hochsensibel aber auch unduldsam und einzelgängerisch. Seit seiner Studienzeit gilt er als unduldsam und unleidlich. Gerstl nimmt als jüngster Hörer seines Jahrganges mit 15 Jahren seine Studien an der Akademie der bildenden Künste auf.

Vier Jahre später wird sich der junge Künstler wieder in seinem Atelier vor dem Spiegel stehend selbst darstellen: Splitterfasernackt, ausgezehrt, mit pastosen dynamischen Farbaufträgen Spuren von purer Emotion auf die Leinwand bannend, in wüsten Entladungen mit dem Pinselstiel kringelförmige, gestische Spuren in die feuchte Farbe gravierend, erweckt der Dargestellte den Eindruck innerer Zerrissenheit – leidvollen Gespanntseins sowie einer ans Bersten reichenden inneren Unruhe und Getriebenheit.

Richard Gerstl, Selbstbildnis als Halbakt, 1902/04Richard Gerstl, Selbstbildnis als Halbakt, 1902/04 © Leopold Museum, Wien | Vienna, Foto | Photo: Leopold Museum, Wien | Vienna/Manfred Thumberger

1906 hatte der Maler Arnold Schönberg und dessen Frau Mathilde kennen gelernt. Beide lassen sich von dem 23-jährigen aufstrebenden Künstler privaten Malunterricht erteilen. Schönberg findet in Gerstl einen überzeugten Mitstreiter für das Neue in der Kunst. Der junge, sozial isolierte Mann wird in den Kreis von Jüngern rund um den visionären Erfinder der Zwölftonmusik aufgenommen und zum ersten Mal erlebt er die Einbettung in ein soziales Gefüge.

Wer ist der hoch talentierte junge Künstler, der sich in derartig schonungsloser Selbstentblößung darstellt und den Eindruck erweckt, er würde sein sich zerfetzendes Inneres nach außen kehren? Was quält, was treibt den Maler? Woher nimmt er den Mut, die Kraft und die Fähigkeit, sich derartig unmissverständlich radikal gegen die Konventionen seiner Zeit zu stellen? Der mit übereinadergelagerten groben Pinselzügen formulierte dürre Leib, das aufmüpfige Antlitz, der herausfordernd wirre Blick, der schmale gekniffene Mund, die linke Hand sich selbst vergewissernd in die Hüfte gestemmt, die andere mit dem Pinsel im Anschlag weggestreckt und in den Raum stakend. Das malerische Feld um seinen Körper ist erfüllt von in wüstem Gestus in die feuchte Farbe gegrabenen Spuren des Pinselstiels. Wie eine Manifestation leidvoller unbewusster Prozesse – ganz im Sinne der neuen, introspektiven Wahrnehmungsperspektiven, die von den Erkenntnissen und Theorien Sigmund Freuds in die Welt gebracht worden sind. Alle sprechen davon. Die Intellektuellen Wiens, die Künstler*innen – sie greifen Freuds neue Sicht auf das Menschsein auf und lassen den Blick ins Weite Land – Arthur Schnitzler prägt die Metapher für die Abgründe der menschlichen Seele, da wo es sich zuweilen wirklich abspielt – lustvoll schweifen, um Neues über das eigene Empfinden und Wahrnehmen zu erfahren. Richard Gerstl liest Freuds „Die Traumdeutung“, beschäftigt sich im eigens dafür angemieteten zweiten Atelier auf der Hohen Warte mit philosophischen Schriften und Musiktheorie. Eine Tageszeitung  bietet Gerstl an als Musikkritiker zu arbeiten, was er allerdings ausschlägt. Seine musikalische Kompetenz ist bekannt, seine ans Fanatische grenzende Begeisterung für die zeitgenössischen Strömungen macht ihn noch mehr zum Außenseiter. Mehrmals wöchentlich besucht Gerstl Konzerte im Musikverein, im Konzerthaus, bis zu dreimal wöchentlich die Hofoper. Gustav Mahler verehrt er – auch als dieser ihm ausschlägt, sich von ihm malen zu lassen. Für Schönberg bricht er die Bresche, sogar als ihm droht dadurch in die Raufhändel im Konzertsaal hineingezogen zu werden.

„Mit Sicherheit weiß ich nur das eine, dass die Werturteile der Menschen unbedingt von ihren Glückswünschen geleitet werden, also ein Versuch sind, ihre Illusionen mit Argumenten zu stützen. […] Die Schicksalsfrage der Menschenart scheint mir zu sein, ob und in welchem Maße es ihrer Kulturentwicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den menschlichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden.“

Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur

Dass Mathilde Schönberg, Alexander von Zemlinskys Schwester, Partituren lesen kann, intelligent, gebildet und musikalisch hochtalentiert ist, dürfte Gerstl jedenfalls imponieren. Die um fünf Jahre ältere Frau ist ihm ein ebenbürtiges Gegenüber. Sensibel, liebenswürdig ist die von ihrem zum egozentrischen Agieren tendierenden Mann mehr oder weniger ignorierte Mathilde Schönberg eine Partnerin auf Augenhöhe. Die beiden werden von einem Begehren zueinander erfasst. Die Sommerfrische in Gmunden am Traunsee 1907, zu der Gerstl von Arnold und Matilde Schönberg – wie andere Schönberg Jünger auch – mitzukommen eingeladen wird, stellt eine gute Gelegenheit dar, diese illegitime Beziehung zu vertiefen. Die beiden erleben einen emotionalen Höhenflug, sie scheinen wie füreinander geschaffen zu sein. Schönberg scheint als einziger in der Wiener Gesellschaft nichts von diesem „Techtelmechtel“, dieser „Amour fou“ mitzubekommen. Ein Jahr später tritt schließlich die Katastrophe ein: Arnold Schönberg erwischt die beiden Liebenden „in flagranti“. Die folgenden Turbulenzen muten wie ein Film-Plot an: Überstürzte Flucht des Liebespaares vom Sommerfrischeort nach Wien. Arnold Schönberg reist hinterher, spürt die beiden auf und kann seine Frau überreden, ins bürgerliche Leben, zu ihrem Ehemann, zu den beiden gemeinsamen Kindern Trudi und Georg zurückzukehren.

Die Folge ist nun völlige Isolation: War Gerstl von den Anhängern Schönbergs akzeptiert und in den „Schönberg-Kreis“ aufgenommen worden, ist er nun ein Ausgestoßener. Viele der Porträts, die Gerstl über die vergangenen beiden Jahre gefertigt hat, zeugen davon: Sie zeigen die Pianistin Henryka Kohn, den Komponisten Alexander von Zemlinsky  oder Anton Weberns Cousin Ernst Diez.

Im Oktober 1908 übersiedelt Richard Gerstl sein Atelier von der Haubenbiglgasse in Döbling in die Liechtensteinstraße im Alsergrund, unweit der Wohnung von Mathilde und Arnold Schönberg. Ihn treibt der Wunsch, der Geliebten nahe zu sein. Tatsächlich wird ihn Mathilde Schönberg dort besuchen, ihm erneut als Aktmodell zur Verfügung stehen.

Gerstl zieht sich zunehmend zurück. Er ist tagelang nicht erreichbar. Sein nächstälterer Bruder, Alois, wird ihn im Atelier finden: Erhängt, vor dem Spiegel, ein Küchenmesser im Bauch. Am frühen Abend des 4. November 1908 hat Richard Gerstl auf dramatische Weise Suizid verübt, nachdem er angeblich alle seine persönlichen Unterlagen verbrannt hat.

Schock, Trauer und Verzweiflung. Die posthum in aller Eile erstellte Diagnose „Neurasthenie“ erlaubt zumindest ein Begräbnis. Die Zwänge der Konvention im katholistisch geprägten Wien sind erstickend und mörderisch. Das gesamte Œuvre Gerstls wird in Kisten verpackt in der Spedition Rosin & Knauer eingelagert.

23 Jahre lange bleiben die Werke unter Verschluss. Erst als der Vater, August Gerstl, damit hadert, für die Aufbewahrung des tristen Erbes weiter zahlen zu müssen, wendet sich der jüngere Bruder Alois an einen ausgewiesenen Kenner zeitgenössischer Kunst: Otto Nirenstein – später Otto Kallir – den Gründer der Neuen Galerie in der Wiener Grünangergasse. Was folgt ist eine Wiederentdeckung. Nirenstein-Kallir wird in den folgenden Jahren dafür sorgen, dass die Werke des jung verstorbenen Malers als das erlebbar werden, was sie auszeichnet: Die Manifestation einer tiefen inneren Zerrissenheit  mit dem Willen zu radikaler Abkehr von allem, was gefällig ist. Die Modernität des malerischen Duktus, der anmutet, als würden wir tief in eine leidende, gequälte Seele blicken, zeugt von dem rücksichtslosen Willen zu Aufrichtigkeit und Schonungslosigkeit. Ziel ist nicht Harmonie. Sichtbar werden die Dissonanzen einer Persönlichkeitsstruktur, die in ihrer Komplexität kaum fassbar, für die umgebenden Zeitgenoss*innen schwer erträglich gewesen sein dürfte.

Wie würde die Nomenklatur einer heutigen Psychologie das Symptombild benennen, welches Gerstl letztlich in die Wahnsinnstat treibt? Tatsache ist: Wie so oft sind die himmelschreienden Signale nicht verstanden worden. Selbst in einer Zeit, in der das Unbewusste ausgelotet zu werden beginnt, der Blick in die Tiefen menschlichen Existierens zunehmend gewagt wird, versagt das gesellschaftliche Sehen psychischen Leidens. Wenn wir heute vor den kraftvollen Werken Richard Gerstls stehen, sind wir gefesselt von der Intensität seines Ausdrucks. Die Dissonanzen seines Empfindens werden uns förmlich mit gestischem Duktus entgegengeschleudert. Gerstl schont uns nicht. Sein Sichtbarmachen seelischer Prozesse mutet messianisch an. Wen wundert, dass sich derartige Radikalität letztlich als Selbstzerstörung darstellt?

Beitrag von Markus Hübl

„Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Menschen gemeinhin mit falschen Maßstäben messen, Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, die wahren Werte des Lebens aber unterschätzen.“

Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur