WIENER GESCHICHTEN - LEOPOLD MUSEUM BLOG

Künstler als

„Seher“ und „Propheten“

Okkultismus in Wien um 1900

Verletzlich, androgyn, auratisch – Egon Schieles Selbstakt von 1910 gilt als eine seiner ersten schonungslosen malerischen Selbstbefragungen. Ausgezehrt, dürr und gehäutet wirkt der von einer weißen Aureole umhüllte Leib des 20-jährigen Künstlers wie die Manifestation einer neuen Weltsicht.

In unzähligen Selbstdarstellungen trat Schiele als „Wissender“, als „Seher“ und „Prophet“ auf: Mit kraftvollen Pinselzügen die pastose Farbe körperhaft auftragend, zeigte er sich in „Selbstseher II“ (1911) glatzköpfig und mit geschlossenen Augen. Dahinter steht ein bleiches Geistwesen im Halbprofil, ganz so, als hätte sich ein Astralleib aus dem Körper herausgelöst.

Provokant, aufreizend und erschütternd – so erscheinen Schieles spirituellen Beschäftigungen mit Fragen menschlicher Existenz und deren malerischen Lösungen, auch und gerade angesichts jener rückwärtsgewandten Ästhetik, von der das eklektizistische Wien der Ringstraßen-Ära geprägt war. So aufgeschlossen, bahnbrechend modern die Entwicklungen in Musik, dramatischer Kunst und Wissenschaft im Wien des Fin de Siècle auch waren – in der Malerei herrschte erstickender Konservativismus.

Schon bevor Schieles Werke begannen, den bürgerlichen Geschmack zu provozieren, hatte der Schriftsteller und Kunstkritiker Hermann Bahr wortgewaltig beklagt, wie sehr die Residenzhauptstadt hinter den Entwicklungen der internationalen Moderne zurückgeblieben sei: Künstlerpersönlichkeiten in Frankreich hätten bereits mutige neue Wege beschritten, während die Genossenschaft der bildenden Künstler Wiens im Künstlerhaus und die Akademie der bildenden Künste in geeinter Hermetik dafür sorgten, dass die Malerei in überholten Auffassungen verharre. Was vorherrsche, schloss Bahr, ließe sich mit „Schmurgeln im eigenen Bratensaft“ umschreiben.

Und doch kristallisierte sich im Spannungsfeld von zivilisatorischem Fortschrittsglauben und kulturellem Unbehagen ein besonderer Weg der Künstler*innen Wiens heraus: Mit dem Umbruch des Secessionismus gelang die Öffnung hin zu internationalen symbolistischen und impressionistischen Tendenzen, die eine Generation später von einem symbolistisch geprägten Expressionismus abgelöst werden sollte.

„Wenn ich mich ganz sehe, werde ich mich selbst sehen müssen [...]" – sehen, „aus welchen räthselhaften Substanzen ich zusammengesetzt bin"

Egon Schiele, 1911

Um 1900 war die pulsierende Residenzhauptstadt Wien gleichsam ein Labor wissenschaftlichen, technischen, ökonomischen, politischen, geistigen und künstlerischen Wandels. Die um sich greifende Fragmentierung der Gesellschaft, die Auflösung tradierter Rollenbilder und eine zunehmende Identitätskrise führten zu einem Rückzug in die Innenwelt. Die Analyse seelischer Erfahrungen und die Beschreibung okkulter Phänomene sollten neuen Halt vermitteln. Mit einem metaphysisch überhöhten Blick „nach innen“ suchte man ein neues Ganzheitsgefühl zu erlangen. Als Gegenbewegung zum Rationalismus und den Entwicklungen der Industrialisierung und des Wirtschaftsliberalismus gehörten okkultistische Séancen auch in den besten Kreisen zum guten Ton. Selbst Kaiserin Elisabeth und später ihre Enkelin Elisabeth Petznek, die „rote Erzherzogin“, hatten mit großer Ernsthaftigkeit dem Okkultismus gefrönt.

Die Beschäftigung mit paranormalen Phänomenen wie Hellsehen oder Telekinese sowie mit spiritistischen Geistermaterialisationen wurden sowohl von bedeutenden Schriftstellern wie Hermann Bahr und Hugo von Hofmannsthal als auch von dem Komponisten Hugo Wolf oder der Frauenrechtlerin Marie Lang leidenschaftlich diskutiert, dokumentiert und praktiziert.

„Ich male das Licht welches aus den Körpern kommt"

Egon Schiele, 1911

Auratische Selbstdarstellungen, „Seelenmalerei“ und ein introspektiver „Röntgenblick“ prägen die Werke von Egon Schiele und Oskar Kokoschka. Die beiden Enfants terribles der Wiener Künstlerszene des Fin de Siècle verarbeiteten in ihrem expressiven Frühwerk metaphysische Ideen und beschäftigten sich wie viele andere mit okkultistischen Fragestellungen und parapsychologischen Phänomenen.

EGON SCHIELE, Entschwebung („Die Blinden“ II), 1915EGON SCHIELE, Entschwebung („Die Blinden“ II), 1915 © Leopold Museum, Wien

Eines der beeindruckendsten Zeugnisse der Bespiegelung übersinnlicher Phänomene im Œuvre Egon Schieles ist „Entschwebung“ („Die Blinden II“) von 1915: Mit entzündlich geröteten, müde sich schließenden Augen in fahlem, ausgezehrtem Antlitz erscheint die männliche Gestalt als Metapher der Trennung von Körper und Seele. Wie der grünlich-bläulich mazerierende Leib eines Untoten schwebt sie über der tonig-morastigen Erde. Hellwach steht indes ihr dürres, eine Mönchskutte tragendes Alter Ego auf dem Boden – das Künftige und das Vergangene treffen in einer zeitlosen Vision aufeinander. Was trieb den 25 Jahre jungen Maler zu einer derart erschütternden Annäherung an das Selbst, an die Darstellung von Daseinszuständen zwischen irdischer Körperlichkeit und metaphysischer Verflüchtigung?

Von herausragender Bedeutung für den modernen Okkultismus war die Entdeckung der Röntgenstrahlen im Jahr 1895, erschien sie doch als experimenteller Beweis für die Existenz unsichtbarer Kräfte und Strahlen, deren Visualisierung auch die wissenschaftliche Bestätigung übersinnlicher Wahrnehmungsfähigkeiten versprach.

Vor allem aber eine neue Technik der frühen Fotografie befeuerte den Anspruch, die Welt von nun an in ihrer ‚Beseelung‘ und Unheimlichkeit abbilden zu können. 1861 hatte William H. Mumler in Boston als Pionier der Geister- und Astralfotografie die Möglichkeit entdeckt, durch Mehrfachbelichtung die Escheinungen von Verstorbenen in die Bilder zu zaubern. Die darauffolgende Spezialisierung seiner Ateliers auf die Darstellung von Geistern bereits Verblichener machte ihn in spiritistischen Kreisen zu einer Berühmtheit und verhalf ihm zu großem Wohlstand. So wurde für alternative Erklärungsmodelle und künstlerische Experimente ein Raum geschaffen, in welchem geistige Abenteuer möglich wurden, aber auch viele Fragen unbeantwortet blieben. Kommt uns das alles nicht irgendwie bekannt vor?

 

Beitrag von Markus Hübl, Kunstvermittler