RUDOLF RIBARZ | Apple Tree | c. 1875 © Leopold Museum, Vienna
Wiener Geschichten
STILVOLL:
STILLE DINGE
Leopold Museum Blog
Bedächtig gleitet die Gehäuseschnecke den schlanken Stamm des Apfelbäumchens hoch, um sich in leicht aufgerichteter Pose der Seelandschaft mit umfriedetem Städtchen im Hintergrund zuzuwenden – beinahe so, als würde sie die Rolle einer Rückenfigur einnehmen, die unseren Blick in die Tiefe des Raumes lenkt. Ein lyrisch-anekdotisches Detail also, der fotografischen Makroaufnahme eines Stilllebens gleich. Wie zufällig gewählt wirkt der Bildausschnitt, der lediglich einen Teil der Baumkrone preisgibt. Dicht drängen sich die reifenden Äpfel mitten im Blattwerk aneinander, das sich im herbstlichen Gegenlicht bewegt. Die präzise Zeichnung geht ein Zusammenspiel mit dem lockeren, nonchalant und souverän gesetzten Pinselstrich ein; das gekonnt eingefangene Spiel von Licht und Schatten auf Laub, Stamm und Früchten schafft Plastizität. Jedenfalls ein kleines Verwirrspiel: Früchte-Stillleben oder doch Landschaftsbild? Führt uns der Künstler in die Irre? Mit der Schilderung eines Augenblicks konterkariert er gekonnt die Bildtradition jener heterogenen Bildgattung, die sich über die Jahrhunderte hinweg großer Beliebtheit erfreute und dennoch lange hinter Historienbild, Porträt und Landschaftsdarstellung als die am wenigsten geschätzte gegolten hat. Der aus Wien stammende Landschaftsmaler Rudolf Ribarz ist bedeutender Vertreter des österreichischen Stimmungsimpressionismus. Als Lehrer für Blumenstillleben an der Wiener Kunstgewerbeschule spielte er mit den Sehgewohnheiten eines Publikums, welches seinen Geschmack an den traditionellen Stillleben des 16., 17. und 18. Jahrhunderts geschult hatte, also an jener Bilderfülle aus den Niederlanden, die einst von einem wirtschaftlich erstarkten Bürgertum selbstbewusst zur Schau gestellt worden war. Überbordende Haufen aus Fischgerichten, erlegtem Wild und allerlei Früchten sah man damals an die Wände der guten Stuben gebannt, aber auch Blumen-, Wald-, Bücher-, Rauchwaren- und Vanitas-Stillleben, zuweilen in täuschend echtem Trompe-l’œil. Oftmals waren es Objekte der Begierde, die sich die Eigner*innen der Werke im echten Leben versagen mussten.
Olga Wisinger-Florian bediente die Erwartungshaltung klassisch gebildeter Wiener Kunstliebhaber*innen elegant: Ihr Stillleben scheint sich motivisch in die Tradition einzufügen! Der tote Hase prangt geschrägt inmitten der Fasane, der Stockenten und dem Eichelhäher, deren drapierte Leichen von halbierten Zitronen, Pilzen, Blattranken und Krautköpfen samt einem hineingewürfelten Silbermesser umgeben sind. Und doch sind der kraftvolle pastose Farbauftrag und der lockere Pinselschlag der Malerin von berückender Modernität. Die Schülerin Emil Jakob Schindlers fusionierte den traditionellen Bildaufbau mit den Ausdrucksmitteln eines neuen Realismus. Das Wiener Bürgertum wurde augenscheinlich zusehends weltoffener.
Die modernen Stillleben im Wien um 1900 kommen ohne verschlüsselte Botschaften und ohne Verweise auf Vergänglichkeit aus. Sie sind Medium und Möglichkeit, sich künstlerisch mit der Dingwelt zu befassen und sich dem Diskurs der neuen Darstellungsweisen hinzugeben.
Paul Cézanne hatte ja bereits das Selbstverständnis der Maler*innen revolutioniert, indem er mit seiner konstruktiven Plastizität einzelne Früchte aus pastosen Pinselzügen aufbaute. Dem neuen Kunstwollen waren keine Schranken gesetzt.
Mit fettem, pastosem Farbauftrag fügten die jungen Avantgardisten wie Anton Faistauer und Anton Kolig Objekte zu analytischen Konstruktionen einer leblosen Welt zusammen und loteten die Möglichkeiten einer neuen Weltsicht aus.
Umso erstaunlicher stellen sich Egon Schieles stilisierte Blumen vor metallisch glänzendem Hintergrund dar: dekorativ und ästhetisierend. 1908 orientierte sich Schiele noch an der Ästhetik Gustav Klimts, zeigte aber bereits Zerfall und Auflösung des Organischen.
Arrangements aus einfachen Alltagsgegenständen wurden zum Ausdrucksmittel neuer Lebensrealitäten. Stilistische Erneuerungen und bedeutungsvolle Aufladungen scheinbar belangloser Dinge verwiesen dabei auf eine Zeitenwende, die unausweichlich zu sein schien. Nach dem Ersten Weltkrieg werden die Stillleben wieder ruhig, geglättet und von einer perfekten Illusionierung der Materialitäten geprägt sein – die Neue Sachlichkeit. Aber das ist eine andere Geschichte ...
Beitrag von Markus Hübl