Wiener Geschichten

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DER WIENER MODERNE

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Elegant, liberal, modern. In einem dichten Rhizom entwickelt die Wiener Intelligenzija neue Ideen und durchdringt mit überbordender Kreativität das Substrat der Wiener Gesellschaft des Fin de Siècle. Ihre Salons sind Treffpunkte der Kreativen und kulturinteressierten Wirtschaftstreibenden. Als Kristallisationspunkte in einer hochgebildeten, neugierigen, aufgeschlossenen Oberschicht bringen sie Menschen zusammen und schaffen einen gediegenen Rahmen für Austausch. Doch nicht nur Ideen werden ventiliert. Man geht Liebesbeziehungen ein und schließt Ehen.

Einen der anspruchsvollsten Salons betreibt Friedrich Eckstein. Gemeinsam mit seiner Ehefrau Bertha, geb. Diener, residiert der aus einer großbürgerlichen jüdischen Familie stammende Universalgelehrte im St.-Genois-Schlössl in Baden bei Wien. Zu den gern gesehenen Gästen zählen Arthur Schnitzler, Karl Kraus, Adolf Loos und Peter Altenberg. Als Vorlage für sein Drama Das weite Land dient Schnitzler die Eckstein-Villa in Baden; Sohn Percy ist Inspirationsquelle für die namensgleiche Figur im Theaterstück und Friedrich Eckstein selbst steht Pate für „Gustl Wahl“.

Von Kindheit an ist Friedrich Eckstein mit Wissenschaftler*innen, Erfinder*innen und Literat*innen in engem Austausch – bereits über den Stammtisch seines Vaters Albert Eckstein hatte der junge Intellektuelle Kontakt zu so illustren Persönlichkeiten wie dem Forstingenieur Wilhelm Franz Exner oder dem Neurologen und Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud. Beim literarischen Stammtisch im Café Imperial trifft er sich mit Hugo von Hofmannsthal, Franz Werfel, Rainer Maria Rilke, Robert Musil, Felix Salten, Adolf Loos, Leo Trotzki und Anton Bruckner.

Wiens Intellektuelle sind aufgeschlossen und neugierig und lechzen förmlich nach neuen Modellen der Welterklärung. In seinem Salon gründet Friedrich Eckstein die Österreichische Loge der Theosophischen Gesellschaft. Bis zu seinem Weggang aus Wien zählt auch Rudolf Steiner zum engsten Kreis Ecksteins. Eine wichtige Mitstreiterin in theosophischen Angelegenheiten ist außerdem die Sozialreformerin, großbürgerliche Frauenrechtlerin und Sozialarbeiterin Marie Lang. Ihre Tochter Lilith studiert an der Kunstgewerbeschule. Im Alter von 16 Jahren dient sie ihrem jungen Kollegen und Freund Oskar Kokoschka als Aktmodell und wird in seinem Buch Die träumenden Knaben verewigt.

Im Dunstkreis der Ecksteins und Langs hat die Malerin Bronisława Pineles (später Pinell) den Arzt und promovierten Physiker Hugo Koller kennengelernt. Beide stammen zwar aus großbürgerlichen Verhältnissen, da sie aber jüdischer Herkunft ist und er aus einer katholischen Familie kommt, werden ihre Heiratsabsichten von ihren Eltern scheel betrachtet. Sie konvertieren schließlich zum Protestantismus und stiften mit ihrer Ehe eine moderne Beziehung. Nach dem Tod von Broncias Vater, dem Wollwarenfabrikanten Saul Pineles, erwirbt Hugo Koller den zur Fabrik umgebauten Gutshof in Oberwaltersdorf bei Wien als Nebenwohnsitz. Die Koller-Pinells lassen das Anwesen von Josef Hoffmann und Koloman Moser zu einem eleganten Gesamtkunstwerk umformen. Hier werden die umfangreichen Sammlungen des Paares und vor allem die gediegene Bibliothek Hugo Kollers Platz finden – ein idealer Ort, um einen der wichtigsten Salons der Wiener Gesellschaft zu etablieren.

Der junge Egon Schiele, mit dem sich Broncia Koller-Pinell angefreundet hat, ist ab 1915 gemeinsam mit seiner jungen Ehefrau Edith ein gern gesehener Gast. Das ikonische Porträt Hugo Kollers inmitten seiner geliebten Bücher, die ihn wie ein Kokon von der Welt abschließen, entsteht im Rahmen dieser meist mehrere Tage währenden Aufenthalte des jungen Paares in Oberwaltersdorf. Broncia Koller-Pinell hatte ihren Mann dazu angeregt, sich von Schiele porträtieren zu lassen, so wie sie sich von Malerkollegen, etwa von Karl Hofer – einer der wichtigen Lehrer ihrer Tochter Silvia – oder Albert Paris-Gütersloh, hat malen lassen.

Die Künstlerin wird zu einem regelrechten Kristallisationspunkt der Wiener Künstlerszene. Zu geförderten jungen Kolleg*innen von Broncia Koller-Pinell zählen Heinrich Schröder, Franz von Zülow, Nora von Zumbusch-Exner, Felix Albrecht Harta, Robin Christian Andersen, Anton Peschka und Anton Faistauer. Im Alter von über sechzig Jahren beginnt sie noch bei der über 30 Jahre jüngeren Erika Giovanna Klien Unterricht zu nehmen.

Auch Alma Mahler ist Gast im Salon der Koller-Pinells. Da ist es beinahe nicht vermeidbar, dass Sohn Rupert, Pianist und Dirigent, sich in die blutjunge Tochter Anna Mahler verliebt. Die beiden heiraten – um sich wenige Monate später wieder scheiden zu lassen.

 

Beitrag von Markus Hübl

 

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