20.10.2023 - 18.02.2024

Gabriele Münter

Retrospektive

GABRIeLE MÜNTER
RETROSPEKTIVE

Gabriele Münter (1877–1962) war weit mehr als die Frau an der Seite Wassily Kandinskys und Retterin der Meisterwerke des Blauen Reiters in Zeiten der nationalsozialistischen Barbarei. Ausstellungen und Publikationen der vergangenen dreißig Jahre haben dahingehend zu einer Neubewertung ihrer Rolle in der europäischen Kunst des 20. Jahrhunderts geführt, dass sie als Fixstern in der internationalen Moderne gilt. Manche ihrer Gemälde sind regelrechte Ikonen des deutschen Expressionismus. Nun widmet das Leopold Museum der herausragenden Protagonistin der Neuen Künstlervereinigung München und des Blauen Reiters als erste Institution in Österreich eine umfassende Retrospektive. Hierzu konnten hochkarätige Exponate aus internationalen Museen und Privatsammlungen akquiriert werden.

Münters Leben und Werk standen abwechselnd im Zeichen von Begeisterung und Enttäuschung, von Neugierde und Resignation. Schon früh als zeichnerisches Talent erkannt und gefördert, schärfte sie im Zuge einer zweijährigen Reise durch die USA ihren Blick für Landschaftsausschnitte zusätzlich als Fotografin. Der mächtige Mississippi hatte es ihr ebenso angetan wie die Weiten der texanischen Prärie, doch auch unspektakuläre oder burleske Alltagsszenen, Konterfeis vertrauter Personen und Zufallsbegegnungen befand Münter für bildwürdig; es entstanden über 400 Fotografien. Schlicht gehaltene Landschaftsausschnitte und Straßenfluchten in starker perspektivischer Verkürzung lassen die spätere Malerin erkennen.

1901 kam sie zum Studium nach München. Die entscheidende Begegnung mit Kandinsky, das spätimpressionistische Malen während ihrer gemeinsamen Reisen und eine intensive Beschäftigung mit Druckgrafik gingen dem Durchbruch zu Klarheit und Reduktion voran, der ihr 1908 im oberbayerischen Murnau gelang. Sie selbst charakterisierte diesen Wendepunkt in ihrer Malerei als einen Übergang „vom Naturabmalen“ zum „Geben eines Extraktes“; Dächer, Hausfassaden und Wiesen verwandelten sich in Kompositionselemente aus ungebrochenen Farben. Der Austausch mit Alexej Jawlensky und die Affinität zur Kinder- und Volkskunst – insbesondere für die bayerische Hinterglasmalerei – zeitigten in Münters Werk bald eine Sonderform des Fauvismus. In dem wenig produktiven Jahr 1912 wagte die Expressionistin erste Schritte in Richtung Abstraktion, meist, indem sie ihre bereits vorhandenen Interieurszenen und Stillleben paraphrasierte.

Meine Arbeiten scheinen mir oft zu verschieden, und dann meinʼ ich auch wieder, daß es doch eine Persönlichkeit ist, die das Verschiedene macht.

Gabriele Münter im Brief an Wassily Kandinsky, 5. November 1910

Das kriegsbedingte Exil im neutralen Schweden, in welches sich die Künstlerin im Juli 1915 begeben hatte, war von Ausstellungserfolgen, Reisen, künstlerischer Neuorientierung, aber auch von Verbitterung geprägt; Letzteres infolge ihrer Trennung von Kandinsky. Die 1920er-Jahren standen im Zeichen einer Schaffenskrise, die mit einem Gastspiel in der Neuen Sachlichkeit endete. Erschwerte Lebensumstände, aber auch eine Konsolidierung des Stils sind für die 1930er-Jahre kennzeichnend. Gabriele Münter wurde zwar seitens des NS-Regimes nicht als „entartet“ gebrandmarkt und mit einem Berufsverbot belegt, doch auch Erfolge blieben aus. Das Haus in Murnau, das sie mit ihrem zweiten Lebenspartner – dem Kunsthistoriker Johannes Eichner – teilte, wurde zu einem sicheren Ort der Moderne: Das Paar rettete zahlreiche frühe Werke Kandinskys und des Blauen Reiters samt einer umfangreichen Dokumentation über die Zeiten der Diktatur und des Krieges hinweg. Dieser Bestand sollte 1957 als Schenkung in den Besitz des Lenbachhauses übergehen.

Als der Kunsthistoriker Ludwig Grote 1949 im Haus der Kunst in München die große Gruppenretrospektive des im Nationalsozialismus verfemten Blauen Reiters veranstaltete, regte sich zunehmend auch das Interesse der Sammler*innen und Galerien an Gabriele Münter. Erneut entstanden zahlreiche Blumenstillleben und Landschaftsgemälde, oft in Form von Selbstparaphrasen. Mit fast kindlicher Entschlossenheit kehrte Münter zu jenen alten Konstanten zurück, die nach vielen Umwegen und Kompromissen nun wieder an Gültigkeit gewinnen sollten: festes Liniengefüge, Farben von zuweilen extravaganter Strahlkraft, Fernsichtigkeit, vertrautes Repertoire. Auch wandte sich die Künstlerin in der Nachkriegszeit abstrakten Kompositionen zu.

Kurator: Ivan Ristić 
Fachkonsulentin: Annegret Hoberg 
Wissenschaftliche Mitarbeit: Barbara Halbmayr 

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