AB 16. APRIL

ALFRED KUBIN

Bekenntnisse einer gequälten Seele

„Vielleicht ist gerade dies das Leben: Ein Traum und eine Angst.“

Alfred Kubin, Tagebucheintrag

ALFRED KUBIN

Bekenntnisse einer gequälten Seele

Die Kunst des großen Zeichners, Illustrators und Verfassers des Romans Die andere Seite, Alfred Kubin, scheint – nicht zuletzt in Anbetracht geopolitischer Konflikte und militärischer Auseinandersetzungen – aktueller denn je: Gewalt, kriegerische Zerstörung, Seuchen, Naturkatastrophen, Manipulationen der Massen und andere Abgründe des menschlichen Seins prägten seine stark erzählerisch orientierten Arbeiten. Das Werk dieses fantastischen Schöpfers konfrontiert uns mit pessimistischen Visionen, die – frei nach Schopenhauer, den Kubin sehr verehrte – die „schlechteste aller möglichen Welten“ skizzieren. Sie rücken die Alltagsrealität ebenso in den Blick wie die Geheimnisse und Rätsel jenseits der sichtbaren Welt.

Kindheit und Jugend Kubins sind von Scheitern und Depression gekennzeichnet: Entlassung aus dem Gymnasium, Abbruch der Fotografenlehre, früher Verlust der Mutter, ein Selbstmordversuch an ihrem Grab, eine Nervenkrise nach kurzer Militärzeit und weitere Schicksalsschläge charakterisieren seinen traumatischen Werdegang. Der Ausweg für Kubin war die Übersiedlung nach München im Jahr 1898, wo er ein Kunststudium aufnahm.

Sein erster Besuch in der Alten Pinakothek hinterließ ihn „aufgelöst vor Seligkeit und Erstaunen“. Die Betrachtung von Max Klingers Radierungen beschrieb er als „Sturz von Visionen schwarz-weißer Bilder“. In der Folge lernte er, wie er in seinen autobiografischen Notizen vermerkte, „das gesamte zeichnerische Werk von Klinger, Goya, de Groux, Rops, Munch, Ensor, Redon und ähnlicher Künstler kennen“. Aus dieser Vielfalt künstlerischer Positionen, vor allem aber aus den eigenen Erfahrungs- und Empfindungswelten und seiner überbordenden Einbildungskraft schuf Kubin ein unvergleichliches, geheimnisvoll-fantastisches Werk.

Erste Erfolge stellen sich im Jahr 1901 ein. Im Herbst trifft er auf den Kunstmäzen Hans von Weber, der eine Mappe mit Faksimile-Drucken nach Zeichnungen von Kubin herausgibt und erfolgreich vertreibt. Im Winter folgt mit der Ausstellung bei der renommierten Berliner Galerie Paul Cassirer der künstlerische Durchbruch. Kubins Motivkosmos trifft den Zeitgeist und speist sich nicht zuletzt aus der Lebensphilosophie der Décadence, der er in seiner dandyesken Münchner Zeit anhängt.

Nebst melancholischer Endzeitstimmung, Neurose, Hysterie und übersteigerte Empfindungssucht frönt man auch einer entfesselten, zwischen den Polen von Eros und Thanatos, Libido und Todessehnsucht angesiedelten Triebhaftigkeit. Kubins Typologie eines ästhetisierten und mit übersexualisiertem Habitus ausgestatteten Frauenbildes referiert nicht zuletzt auf mythologische Vorbilder, die in der symbolistischen Kunst um 1900 eine Renaissance erleben: Salome, Judith, Sirenen oder Sphingen werden zu beliebten Projektionsflächen moderner Femme fatale-Vorstellungen.

Während eines Aufenthalts im März 1903 in Schärding, wohin Kubins Familie übersiedelt war, lernt der Künstler seine spätere Verlobte Emmy Bayer kennen, die jedoch noch im selben Jahr tragischer Weise an Typhus verstirbt. Ein weiterer schwerer Schicksalsschlag für den 26-jährigen Kubin auf den eine länger andauernde Schaffenskrise folgt. 1906 zieht sich Kubin auf Schloss Zwickledt, ein abgeschiedenes Landgut im oberösterreichischen Wernstein am Inn, zurück, wo er die Ruhe für seinen Roman findet. Die andere Seite schreibt er in nur acht Wochen und illustriert ihn in vier weiteren. Auf den literarischen Erfolg folgen Aufträge für Buchillustrationen, die ihn finanziell über Wasser halten – unter anderem für Werke von Edgar Allan Poe, Otto Julius Bierbaum, Gérard de Nerval, Fjodor Dostojewski und E. T. A. Hoffmann.

Das Zusammentreffen mit dem Maler Paul Klee 1911 ist der Beginn eines intensiven künstlerischen Austausches. Auf Anraten von Wassily Kandinsky und Gabriele Münter tritt Kubin 1911 aus der Neuen Künstlervereinigung München aus und der neugegründeten Gruppe des Blauen Reiters als externes Mitglied bei. Der Tod von befreundeten Künstlerkollegen im Ersten Weltkrieg wie August Macke (†1914) oder Franz Marc (†1916), mit denen er als Mitglied des Blauen Reiter ausstellte, treffen ihn schwer. Kubin selbst bleibt aufgrund seines fragilen gesundheitlichen Zustandes der Kriegseinsatz erspart – das ständige Zittern vor einem Einberufungsbefehl erschöpft ihn aber zunehmend.

Die Barbarei und die Inhumanität des Krieges verarbeitet Kubin zeichnerisch. Er entwirft dämonische, aus dem Unbewussten gespeiste Gegenwelten, die von tierischen Gestalten oder Mensch-Tier-Mischwesen bevölkert werden, welche als unheilvolle Schicksalsfiguren in Erscheinung treten und denen der Mensch ohnmächtig ausgeliefert ist. Aber nicht nur ein derartiges Bestiarium aus Hybridwesen bedroht die Menschheit von außen und versetzt sie – umgeben von chaotischer Wildnis, düsteren Höhlen und Schluchten – in Angst und Schrecken. Die Krisen und Katastrophen archaischer Gewalt gehen nicht zuletzt vom Menschen selbst aus. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten bedeutet für Kubin Ertragseinbußen und Geldschwierigkeiten sowie die Sorge um seine Frau Hedwig, die jüdische Vorfahren hat. Es wird schwieriger für ihn Verleger für seine Arbeiten zu finden.

„Der Tod, das Nichts ist das Ziel der Welt, und mithin ihres Inhalts, der einzelnen Kräfte, die zusammen die Welt ausmachen." 

Alfred Kubin

Mit der Beteiligung bei der Biennale in Venedig in den Jahren 1950 und 1952 und der Verleihung des Österreichische Staatspreis für Literatur, Musik und bildende Kunst 1951 wird Kubin erst nach 1945 die breite, öffentliche Anerkennung seiner Heimat Österreich zuteil. In einem Schenkungsvertrag vermacht Kubin vier Jahre vor seinem Tod testamentarisch seinen zeichnerischen Nachlass dem österreichischen Staat und dem Land Oberösterreich gegen die Auszahlung einer Leibrente. Als sich Kubin 1959 am Totenbett einer ärztlichen Behandlung unterzog, sprach er einen für sein Leben und Werk beispielhaften Satz: „Nehmen Sie mir meine Angst nicht, sie ist mein einziges Kapital.“

Kurator: Hans-Peter Wipplinger

  • Der Belgier Fernand Khnopff studierte an der Académie royale des Beaux-Arts in Brüssel. In den 1890er-Jahren stellte Khnopff europaweit aus, darunter 1895 zum ersten Mal in Wien. Seine geheimnisvollen Allegorien, melancholischen Landschaften und eindringlichen Porträts prägten so unterschiedliche Künstler wie Gustav Klimt und Alfred Kubin. Das Wechselspiel von Eros und Thanatos – der erstmals von Sigmund Freud beschriebenen Lebens- und Todestriebe – reflektiert Khnopff in der Gestalt der Sphinx. Halb Frau, halb Löwe symbolisiert die Sphinx das Rätselhaft-Weibliche – der androgyne Engel steht als gepanzerter Sieger über dem gefährlichen Mischwesen.
  • Der belgische Künstler James Ensor begeisterte sich für die Ambivalenz von äußerem Schein und innerem Abbild: Kuriositäten, Chinoiserien und Masken im Souvenirladen seiner Mutter regten die kindliche Fantasie in ihm an. Das Absurde und die Überzeichnung gehören ebenso zu seinen künstlerischen Mitteln wie der schwarze Humor. Der an der Académie royale des Beaux-Arts in Brüssel ausgebildete Künstler zählte Fernand Khnopff zu seinen Studienkollegen und im Illustrator Félicien Rops fand er einen Gleichgesinnten. Kubin schätzte den belgischen Künstler überaus und nahm eine Radierung Ensors in seine private Sammlung auf.
  • Die Dame auf dem Pferd, durch Ausstellungen in Berlin 1901 und 1903 und durch Veröffentlichungen bekannt gemacht, beunruhigte die zeitgenössische Kritik in beträchtlichem Maße, vielleicht, weil hier die zerstörerische Macht des „Weibes“, mehr noch als in den archetypischen, „zeitlosen“ Bildsymbolen Kubins, in vergleichsweise modernem, „realistischem“ Gewand bedrohlich wird. Auf einem hölzernen Schaukelpferd reitet eine Dame im Reitkostüm der Belle Époque mit Zylinder und herrischer Wendung des Kopfes.