Wiener Geschichten

Ostern und Pessach

Antisemitismus und Zionismus

Nun, im Frühjahr, feiert das Christentum Ostern und damit die Auferstehung Jesu Christi. Das jüdische Pessach-Fest erinnert dagegen an den Auszug aus Ägypten, also an die Befreiung der Israeliten aus der Sklaverei, wie sie auch im Buch Mose beschrieben wird. Während heute weniger als 10.000 Juden in Wien leben, waren es in der Zeit um den Ersten Weltkrieg fast 200.000, also etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Gerade im Bereich der Kunst und Kultur war der Anteil allerdings wesentlich größer. Deshalb erstaunt es, dass Egon Schiele in allen erhaltenen schriftlichen Zeugnissen das jüdische Leben der Stadt in keiner Weise erwähnt.

Eine einzige, wenngleich auch nur indirekte Bezugnahme zum Judentum ist der Brief seiner Schwägerin Adele Harms im Juni 1915, den sie ihm nach Prag schickte, wo er als Soldat stationiert war. Darin fragt sie ihn, ob er schon den jüdischen Friedhof besucht hätte. Im Satz zuvor hält sie fest: „An die Stiege aus dem Film erinnere ich mich gut“. Wahrscheinlich meint Adele den Film Der Golem, ein deutscher Stummfilm, der im Jänner 1915 Premiere hatte und der im Prager Judenviertel spielt. Von diesem atmosphärischen, alptraumhaften Streifen sind nur mehr Fragmente erhalten, es ist aber anzunehmen, dass, wie auch im ebenfalls 1915 erschienenen Roman Der Golem von Gustav Meyrink, Szenen auf dem jüdischen Friedhof gespielt haben. Eine Stiegenszene kommt dagegen mit Sicherheit vor, sie ist das Zentrum einer Verfolgungsjagd am Höhepunkt des Films.

Adeles Brief beweist also, dass sie, ihre Schwester und auch Egon Schiele gerne ins Kino gegangen sind (wie auch Franz Kafka zeitgleich in Prag), erhellt aber wenig über dessen Beziehung zur jüdischen Gemeinde von Wien.

Das Judentum wurde in dieser Zeit immer mehr politisch instrumentalisiert. Georg Ritter von Schönerer hatte als einer der Ersten erkannt, wie wirksam die Judenhetze für die Politik sein konnte und bediente sich ihrer schamlos. Der Antisemitismus erreichte im Jahr 1888 einen bis dahin nicht für möglich gehaltenen politischen Höhepunkt, als sich die Deutschnationalen und Christlich Sozialen bei den Wiener Gemeinderatswahlen zu einer Wahlgemeinschaft zusammenschlossen. Der Führer dieser neuen Partei, Karl Lueger, spürte, dass ihm der Antisemitismus zu einer großen politischen Karriere verhelfen könnte. Als brillanter Rhetoriker setzte er die Judenhetze gezielt ein, um die Massen zu verblenden und wurde schließlich Bürgermeister von Wien. Ihm wird der Ausspruch zugeschrieben: „Wer ein Jude ist, bestimme ich!“

„Bin ich meiner Zeit voraus? Sind die Leiden der Juden noch nicht groß genug? Wir werden sehen.“

Theodor Herzl

Theodor Herzl, ein assimilierter Jude und beliebter Schriftsteller und Journalist, erkannte, dass in diesem Klima die Integration der Juden in ihren jeweiligen Gastländern immer schwieriger wurde und auch die beste Assimilation nichts mehr half. Für ihn gab es nun nur mehr eine Lösung der „Judenfrage“, nämlich ein souveräner, jüdischer Staat als politischer Machtfaktor. Im Februar 1896 veröffentlichte er in Wien seine Schrift „Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage“. Im gleichen Jahr versuchte Herzl seine Idee, die begeisterte Zustimmung und entschiedene Ablehnung auslöste, auch in Gesprächen mit internationalen Politikern populär zu machen. Er war sich bewusst, dass die Vision eines eigenen Staates für die Juden ein komplexes und längerfristiges Projekt sein musste und fragte sich: „Bin ich meiner Zeit voraus? Sind die Leiden der Juden noch nicht groß genug? Wir werden sehen.“

Diese neue, jüdische Nationalstaatsidee machte die deutschnationalen, antisemitischen Theorien noch radikaler und es begann eine Produktion von pseudowissenschaftlichen Publikationen, deren antijüdische Vorurteile sich erst Jahrzehnte später, im Holocaust, voll auswirken sollten. Einer dieser rassistisch motivierten Ideologen war Jörg Lanz von Liebenfels, dessen „Ostara-Hefte“ vom jungen Adolf Hitler, der 1907-1911 in Wien lebte, gerne gelesen wurden und seine bereits deutlich antisemitische Gesinnung nur noch weiter stärkten.

Theodor Herzl wurde am 2. Mai 1860 in Pest, Königreich Ungarn, geboren und war ein dem Judentum zugehöriger österreichisch-ungarischer Schriftsteller, Publizist und Journalist.

Theodor Herzl veröffentlichte 1896 sein Buch Der Judenstaat, in dem er seine Überzeugung argumentierte, dass Juden wegen des herrschenden Antisemitismus einen eigenen Staat gründen müssten. Er gilt damit als Hauptbegründer des politischen Zionismus.

Postkarte mit einem Porträt von Theodor Herzl, undatiertPostkarte mit einem Porträt von Theodor Herzl, undatiert © Sammlung Ariel Muzicant

Arthur Schnitzler, der im 1908 entstandenen Roman Der Weg ins Freie und im bis 1918 verbotenen Drama Professor Bernhardi den Wiener Alltagsantisemitismus eindringlich schilderte, bemerkte, dass der Krieg, in dem jüdische Soldaten Schulter an Schulter mit deutschen kämpften und starben, nichts daran änderte. In seinem Tagebuch schrieb er von Frontküchen, die jüdischen Soldaten nichts zu essen gaben und von der Stadtverwaltung, die ausschließlich jüdische Ärzte den Flecktyphusspitälern zuteilte. 1918 notierte er kurz und nüchtern: „Antisemitismus“, und weiter: „Auswanderung, sofort.“ Freilich ist er aber in Wien geblieben, wo er 1931 starb.

Heute, nachdem die einst blühende jüdische Gemeinde Wiens durch die Verbrechen des Nationalsozialismus nahezu ausgelöscht worden war, gibt es wieder eine kleine, selbstbewusste jüdische Gemeinschaft, die ganz wesentlich zum Wien des 21. Jahrhunderts dazugehört.

 

Beitrag von Stefan Kutzenberger