CHRISTIAN SCHAD, Selbstbildnis mit Modell, 1927 (Detail) © Tate: Leihgabe einer Privatsammlung 1994 Foto: Benjamin Hasenclever, München © Christian-Schad-Stiftung Aschaffenburg/Bildrecht, Wien 2024
24.05. – 29.09.2024
GLANZ UND ELEND
NEUE SACHLICHKEIT IN DEUTSCHLAND
GLANZ UND ELEND
NEUE SACHLICHKEIT IN DEUTSCHLAND
Nach den physischen und psychischen Zurichtungen und abgründigen Erfahrungen des Ersten Weltkrieges, in dem mehr als neun Millionen Menschen den Tod fanden und der über zwanzig Millionen Verwundete hinterließ, verlangte die Kunst nach einer neuen Darstellung der Wirklichkeit. Auf der einen Seite Resignation, Anklage und unbeschreibliches Elend, auf der anderen Hoffnung, Emanzipation und aufkommende Lebenslust der sogenannten „Goldenen Zwanzigerjahre“ – dieses Epochenphänomen sollte auf eine neue Weise beschrieben werden: unsentimental, nüchtern, konkret und puristisch, kurz: auf eine sachlich realistische Art. Damit trat die Neue Sachlichkeit, deren Bezeichnung auf Gustav Friedrich Hartlaub zurückgeht, der 1925 in der Städtischen Kunsthalle Mannheim die Ausstellung Neue Sachlichkeit – Deutsche Malerei seit dem Expressionismus organisierte, als Gegensatz und nicht zuletzt als Reaktion gegen einen pathoserfüllten, illusionistischen Expressionismus auf, der nicht in der Lage war, die geistige und politische Krisensituation bzw. deren Wirklichkeit zu protokollieren. Hartlaub begründete auch die Theorie von den zwei Flügeln der Neuen Sachlichkeit: den linken, politisch ausgerichteten, zivilisationskritischen Flügel der Verist*innen und den rechten, klassizistisch-neuromantischen und traditionsorientierten Flügel.
Max Beckmann, George Grosz, Heinrich Maria Davringhausen, Christian Schad, Otto Dix, Lotte Laserstein, Gerta Overbeck, Rudolf Schlichter, Karl Hubbuch, Grethe Jürgens und viele weitere Künstler*innen bannten den Zeitgeist auf Leinwand und Papier. Bildthemen fanden sie nicht nur in den Folgen des Ersten Weltkrieges, sondern auch in der florierenden Vergnügungsindustrie, den neuen Lebensentwürfen autonomer, selbstbewusster Frauen oder dem Eindringen des technischen Fortschritts in die Natur und Alltagswelt. Die Menschen wie die Dinge wurden gestochen scharf, nüchtern und distanziert ins Bild gesetzt, womit für die Nachwelt ein eindrückliches Bild von den Verhältnissen und Entwicklungen der Weimarer Republik (1918–1933) gezeichnet wurde.
Ein jähes Ende fanden diese neuen künstlerischen Ausformungen 1933 mit der Machtübernahme Adolf Hitlers und der aufkommenden nationalsozialistischen Kunstpolitik: Politisch verdächtige Künstler*innen mussten Durchsuchungen ihrer Wohnungen und Ateliers über sich ergehen lassen, wurden aus Institutionen oder Vereinigungen ausgeschlossen und erhielten Ausstellungs- und Berufsverbot. Manche Kunstschaffende wurden ermordet, andere ins Exil gezwungen, viele zogen die innere Emigration vor oder passten sich der herrschenden Kunstpolitik an.
Die Ausstellung mit rund 150 Werken aus internationalen musealen und privaten Sammlungen stellt die erste umfassende Präsentation zur deutschen Neuen Sachlichkeit in Österreich dar.
Kurator: Hans-Peter Wipplinger
Kuratorische Assistenz und Projektkoordination: Aline Marion Steinwender
„BRUTALITÄT!
KLARHEIT, DIE WEH TUT […]
PINSLE, WAS DAS ZEUG HÄLT –
FANG DIE RASENDE ZEIT EIN“
George Grosz
George Grosz gehört zu den bekanntesten Vertretern der Neuen Sachlichkeit und kritisierte mit seinen Arbeiten die Elite der Weimarer Republik. Inspiration hierzu fand er in den sozialen Gegensätzen der Großstadt und in ihren Abgründen (Mord, Perversion, Gewalt). Exemplarisch für Grosz’ Œuvre steht das Werk Grauer Tag von 1921. Es zeigt eine nicht miteinander agierende Gruppe: Im Vordergrund steht ein „Magistratsbeamter für Kriegsbeschädigtenfürsorge“ (so der Titel des Bildes im Katalog zur Mannheimer Ausstellung Neue Sachlichkeit, 1925), hinter ihm ein abgemagerter Kriegsversehrter. Beide werden räumlich durch die halb eingestürzte Mauer getrennt, die den Klassenunterschied zwischen Bürgertum und Proletariat symbolisiert.
GEORGE GROSZ, Grauer Tag, 1921 © Staatliche Museen zu Berlin, Neue Nationalgalerie, 1954 erworben durch das Land Berlin, Foto: Staatliche Museen zu Berlin, Nationalgalerie/Andres Kilger © Estate of George Grosz, Princeton, N.J./Bildrecht, Wien 2024
DER TANZ AUF DEM VULKAN – ZWISCHEN EKSTASE UND SARKASMUS
Viel ist im Kontext der 1920er-Jahre von den mondänen „Goldenen Zwanzigern“ die Rede, von einem kulturellen Aufbruch in eine neue Ära nach dem Zusammenbruch des Ersten Weltkrieges. Tatsächlich kam es nach der Überwindung der Inflation in den Jahren zwischen 1924 und 1928 zu einer solchen Hochphase, sie währte jedoch nicht lange. Die Metapher „Tanz auf dem Vulkan“ beschreibt sehr bildstark die ahnungslose Ausgelassenheit, die in Anbetracht der kommenden Katastrophe herrschte.
Um den Alltag nach den Kriegstraumata vergessen zu machen, florierten die nächtlichen Phantasmen und Angebote einer ausschweifenden Vergnügungsindustrie. In den Varietés, Theatern und Cafés konnten die gebeutelten Existenzen jene Zerstreuung finden, die sie suchten, um der Härte der Wirklichkeit zu entfliehen – und die Künstler*innen der Zeit wiederum fanden darin ihr breites Motivspektrum. In den sozialkritischen Varieté- und Nachtlebenszenerien von Otto Dix bis Rudolf Schlichter zeigen sich die lebenslustigen, modisch gestylten, manchmal auch ausgemergelten Damen und Herren beim Paartanz oder es finden sich freizügig gekleidete Revue-Tänzer*innen und Prostituierte jeden Alters ein, die sich ihr Überleben in den pulsierenden Vergnügungstempeln verdienen mussten. Das emotionale Spektrum der ins Bild gesetzten Beziehungsverhältnisse und deren Spielarten reicht dabei von drastischen Lustmordbildern bei Schlichter oder Dix bis hin zu einfühlsamen, wenngleich auch nüchtern vorgetragenen Idealvorstellungen zwischenmenschlicher Begegnungen.
SCHATTENSEITEN DES LEBENS
Der Tatsachensinn der Neuen Sachlichkeit mit seinem Anspruch auf Nüchternheit und Authentizität konnte nach den Kriegs- und Revolutionsjahren nicht über die Gescheiterten und Gestrandeten hinwegblicken, die auf der Schattenseite des Lebens gelandet waren. Nach dem Krieg herrschten in der jungen Republik aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation soziales Elend und große Not, vor allem im Proletariat, das zunehmend verarmte. Die sozialen Missstände waren unübersehbar und förderten die politische Instabilität wie die Gewalt auf den Straßen. Zahlreiche der schweren menschlichen Schicksale, die sich daraus ergaben, wurden von den Verist*innen als Motiv aufgegriffen: Ob Lumpensammler*innen, Arbeitslose oder verwahrloste Kinder – Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit und der tägliche Existenzkampf stehen den Porträtierten von Rudolf Schlichter bis Lea Grundig-Langer oder Käthe Kollwitz ins Gesicht geschrieben. Ausgeführt wurden diese sozialkritischen Lebensschilderungen mit einer Schärfe fürs Detail und einem schonungslosen Blick.
DIE EMANZIPIERTE FRAU – NEUE LEBENSENTWÜRFE DER 1920ER-JAHRE
Neben allen ökonomischen Krisen in der Weimarer Republik herrschte jedoch auch eine Atmosphäre des Aufbruchs, welche sich auch in der Emanzipation der Frau widerspiegelte. Nach dem feministischen Kampf zur Erlangung politischer Rechte, der 1918 schließlich zum Frauenwahlrecht führte, ging es nun um eine weitere gesellschaftliche Mitbestimmung. Die wachsende Teilhabe von Frauen an der Berufswelt war nicht zuletzt auch einer ökonomischen Notwendigkeit geschuldet, da viele Männer nicht mehr – oder psychisch und physisch schwer angeschlagen – aus dem Krieg zurückgekehrt waren und die junge Republik dringend Arbeitskräfte benötigte.
Der Gedanke der Gleichberechtigung zeichnete sich gleichermaßen im Erscheinungsbild der Frauen ab, die nun Bubikopf, kurze Kleider oder Hosenanzüge trugen und sich androgyn bis maskulin gaben. Die Geschlechterrollen wurden visuell aufgebrochen und ein neuer ästhetischer Anspruch war geboren, der in Zeitschriften und Feuilletons propagiert wurde. Künstlerinnen – unter anderem Lotte Laserstein, Kate Diehn-Bitt, Jeanne Mammen sowie Gerta Overbeck – sahen in der Darstellung der „Neuen Frau“ einen Weg, den Frauentypus mitzugestalten und eine „Annäherung der Geschlechter“ herbeizuführen. Das Spiel mit sexueller Identität oder – wie im Falle von Kate Diehn-Bitts Selbstporträt – mit „Intersexualität“ stellte ebenso wie die Darstellung von der Vermännlichung der Frau für die traditionell patriarchalische Gesellschaft eine Bedrohung dar.
MENSCH – INDUSTRIE – TECHNIK
Die 1920er-Jahre waren geprägt von einer rasend schnellen Entwicklung im Bereich Industrie und Technik. Neue Formen der Kommunikation oder Innovationen im Bereich des Verkehrs – Telefonapparate, Flugzeuge und vieles mehr – waren Ausdruck einer Zeit, die von einer generellen Beschleunigung und Mechanisierung gekennzeichnet war und einer traditionellen, erstarrten Lebensform gegenüberstand.
Die zahlreichen Industriebilder der Neuen Sachlichkeit – von Rudolf Schlichter bis Gustav Wunderwald – zeigen eine gesichtslose Welt mit Fabriken, Elektrizitäts-, Ziegel- oder Kalkwerken. Das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine ist ein prekäres und das Individuum muss sich den neuen Gegebenheiten unterwerfen. Die Rollen, die von den Menschen in einer taylorisierten Welt eingenommen werden, sind unterschiedlicher Natur: Otto Griebels Der Schiffsheizer steht für eine neue selbst- und klassenbewusste Persönlichkeit, Erich Wegners Alter Mann mit Kind am Hafen für einen Skeptizismus gegenüber dem Fortschritt und in Anton Räderscheidts Selbstporträt in Industrielandschaft wird der Mensch selbst zur funktionierenden Maschine.
ZWISCHEN PARODIE UND CLOWNERIE
Abseits konventioneller Schilderungen fühlten sich Künstler*innen besonders von Orten wie Zirkus, Varieté oder Jahrmarkt angezogen, die für eine Parallelwelt stehen. Dabei ist nicht nur der Zerstreuungs- und Vergnügungsaspekt von Relevanz. An Orten wie diesen gerät die bürgerliche Ordnung aus den Fugen. Narren und Närrinnen, Gaukler*innen und Akrobat*innen stehen symbolisch für gesellschaftliches Außenseitertum und für eine Überschreitung der Normen.
DER ANFANG VOM ENDE
Mit der Weltwirtschaftskrise, die im Börsenkrach am Schwarzen Freitag, dem 25. Oktober 1929, ihren Ausgangspunkt hatte, war es mit dem kurzfristigen Aufschwung Mitte der 1920er-Jahre endgültig vorbei. Die Arbeitslosenzahlen stiegen ins Unermessliche, Banken meldeten aufgrund des Abzugs von amerikanischem Kapital Insolvenzen an und gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Kommunist*innen, Sozialist*innen und Nationalsozialist*innen standen ab 1930 auf der Tagesordnung. Darüber hinaus erfuhren ab 1930/31 Demonstrations-, Versammlungs- und Pressefreiheit starke Einschränkungen. Die NSDAP erreichte bei der Reichstagswahl im November 1932 die meisten Stimmen und forderte die Position des Reichskanzlers, zu dem Adolf Hitler schließlich im Januar 1933 ernannt wurde. Der Terror im großen Maßstab gegen Andersdenkende nahm seinen Anfang, die Weimarer Republik fand ihr Ende.
So heterogen wie die Kunstschaffenden der Neuen Sachlichkeit stilistisch und motivisch arbeiteten, so unterschiedlich waren ihre Reaktionen zuerst auf den Aufstieg der NSDAP und dann den Führerstaat. Jüdische Kunstschaffende, wie etwa Felix Nussbaum, wurden kategorisch aus Ausstellungen ausgeschlossen und in der Folge deportiert und ermordet. Jene neusachlichen Maler, die dem sozialkritischen Verismus nahestanden, wurden aus ihren Ämtern entlassen und emigrierten entweder ins Ausland oder in die Provinz. Einige führende Nationalsozialist*innen aber auch das konservative Publikum schätzten handwerkliche Perfektion in Form von altmeisterlichen Maltechniken und den sachlichen Zugang zur Realität. Daher führten so manche konservativ arbeitende Kunstschaffende ihr zeitloses Werk unbehelligt fort und konnten sogar Karriere machen. Entscheidend waren Haltung und Themenwahl, die der NS-Kulturpolitik entsprechen mussten. Künstlerische Opposition gegen das Regime konnte nur mehr im Geheimen stattfinden.
Die Künstler*innen der Neuen Sachlichkeit reflektierten in ihren Werken den Geist der Zeit, versuchten nüchtern und realistisch den Glanz und das Elend dieser ambivalenten Epoche darzustellen und mit ihren Gemälden, Grafiken und Skulpturen die Gräuel des Ersten Weltkrieges und deren Folgen zu verarbeiten. Es stellte sich heraus, dass die Nachkriegszeit unmittelbar in die Vorkriegszeit überging, um in eine neue Katastrophe zu münden.